Jede Familie hat ihre Geheimnisse, in jeder Familie gibt es Ereignisse aus der Vergangenheit, die lieber unter den Teppich gekehrt werden und über die nur hinter vorgehaltener Hand geredet wird. Wenn überhaupt. Und in vielen Familien sorgt dieses Nicht-darüber-sprechen-Können für Reibungen, Unsicherheiten, oft auch für Lügen und manchmal auch dafür, dass dieser Familienverbund zerbricht. Weil die Schwester, der Bruder, die Mama oder der Papa mit dieser Situation nicht zurechtkommen. Oder weil die Geschehnisse aus der Vergangenheit so groß und so einschneidend waren, dass sie die Gegenwart prägen. Weil sie nie aufgearbeitet wurden und eine oberflächliche Pseudonormalität über Traumatisierungen gestülpt wurde.

In der sechsteiligen Serie "Haus aus Glas" – sie ist für Zuschauerinnen und Zuschauer aus Deutschland in den Mediatheken von ARD und Arte, am Donnerstag linear ab 20.15 Uhr auf Arte und ab 9. Jänner im Ersten zu sehen – ist es eine Entführung, an deren Folgen alle Mitglieder der wohlhabenden Unternehmerfamilie Schwarz zu kiefeln haben. Jede und jeder auf andere Weise.

Wütende Stefanie Reinsperger

Emily (Sarah Mahita) – das jüngst der vier Kinder – war damals, vor 20 Jahren, das Opfer und für Stunden eingesperrt in einer Kiste unter der Erde. Heute leidet sie unter Panikattacken, kann ihren Alltag nicht allein bewältigen. Autorin Esther Bernstorf und Regisseur Alain Gsponer nehmen Emilys Hochzeit als Ausgangspunkt für die Dekonstruktion einer – nur nach außen hin – funktionierenden Familie. Das tut weh, diese Wunden von früher sind noch lange nicht vernarbt. Im Gegenteil.

Emily (Sarah Mahita), Leo (Morgane Ferru) und Eva (Stefanie Reinsperger) betrachten in Barbaras Atelier ein altes Bild.
Foto: WDR/Constantin Film

Hinter den Hochsicherheitsmauern der schicken, modernen Villa bröckelt die Fassade ganz gewaltig. Die Gießerei Schwarz steckt in Schwierigkeiten, der neue Schwiegersohn Chris (Aram Arami) – installiert von Familienpatriarchen Richard (Götz Schubert) – soll die Firma retten, mit nicht ganz sauberen Methoden. Was wiederum die älteste Tochter Eva (wunderbar wütend: Stefanie Reinsperger) vor den Kopf stößt. Seit Jahren ist sie es, die ihre Energie in die Firma steckt und so auch ihre Verletzungen zu kompensieren versucht. Sie leidet am meisten darunter, dass sich immer alles um das verletzliche und labile Entführungsopfer Emily gedreht hat.

Die Schwestern Leo (Morgane Ferru), Barbara (Juliane Köhler) und Eva (Stefanie Reinsperger).
Die Schwestern Leo (Morgane Ferru, links) und Eva (Stefanie Reinsperger, rechts) mit Mama Barbara (Juliane Köhler).
Foto: WDR/Constantin Film

Bruder Felix (Marlin Rose) kehrt anlässlich der Hochzeit nach Jahren aus Kanada zurück, er will sein Erbe ausbezahlt bekommen, um sich dort mit seiner Frau und seinem Kind ein neues Leben aufzubauen. Von denen seine Eltern und Geschwister in Deutschland nichts wissen. Und dann gibt es da noch Schwester Leo (Morgane Ferru), alleinerziehende Mutter von Linus, die ihr ganz eigenes Packerl in Form von Schlafstörungen und Tablettensucht zu tragen hat und es allen recht machen will. Der lieben Familie wegen.

Emily (Sarah Mahita) im Nachtzug
Als Emily (Sarah Mahita) im Nachtzug aufwacht, ist nichts mehr so, wie es war.
Foto: WDR/Constantin Film

Alkohol gegen Einsamkeit

In sechs Folgen seziert Gsponer sehr präzise das Verhältnis zwischen den Geschwistern und auch jenes zu den Eltern. Die Szenen spielen sich vor allem innerhalb des Hochglanzhauses ab, Champagner hilft gegen die Einsamkeit inmitten der Familienbande. Und er hilft auch Mama Barbara (Juliane Köhler), die sich in ihre Kunst und ihr Atelier zurückzieht, um dort zu vergessen, was war und was ist. Doch damit kommt auch sie nicht mehr durch. Vehement bahnen sich die Verletzungen, die Fehler, die Lügen der Vergangenheit ihren Weg an die Oberfläche. Auch weil die direkte Eva Dinge beim Namen nennt, die andere noch zu verdrängen versuchen. Das erzeugt freilich Spannungen und böses Blut.

Emily (Sarah Mahita) und Eva (Stefanie Reinsperger)
Nicht alles ist dunkel und düster: Emily (Sarah Mahita) und Eva (Stefanie Reinsperger) können auch mal unbeschwert sein.
Foto. WDR/Constantin Film

Später mischt sich in diese hervorragend gespielte und von Gsponer schön beklemmend inszenierte Familienaufstellung ein Krimi-Element in Form einer weiteren (vermeintlichen) Entführung. Chris – Emilys Mann und künftiger Boss der Gießerei Schwarz – ist verschwunden. Hier schlägt das Drehbuch dann gar arge Volten. Die aber immerhin Emilys Selbstermächtigung vorantreiben. Endlich bewegt sich etwas in dieser Familie, endlich wird miteinander geredet. Der Heilungsprozess kann beginnen. (Astrid Ebenführer, 4.1.2024)