Der Linux-Desktop hat seit seinen Anfängen eine Reihe von Hype-Zyklen durchgemacht. Ende der neunziger Jahre des letzten Jahrtausends war die erste solche Welle, als selbst große Fernsehsender über das (vermeintlich) nahende Ende für das Windows-Monopol berichteten. Der Aufstieg von Ubuntu einige Jahre später war ein zweiter solcher Schub.

Die Stärken waren dabei schnell ausgemacht: Die offene Entwicklung und somit auch die Unabhängigkeit von einem einzelnen Anbieter wie Microsoft wurden oft ins Treffen geführt, das Kostenargument war aber wohl noch wichtiger. An der Spitze der technischen Entwicklung stand der Linux-Desktop hingegen nur selten. Gerade grafisch war er damals vergleichsweise konservativ gehalten und nutzte die aufkommenden Möglichkeiten moderner Grafikhardware nur wenig. Stabilität war ein wesentlich wichtigeres Gut als die Massen mit Effekten und anderen grafischen Spielereien anzusprechen.

Bling!

Anfang 2006 sollte sich das aber schlagartig ändern. Eine neue Entwicklung sorgte dafür, dass der Linux-Desktop plötzlich vielen gar als "cooler" erschien als das, was Windows und Apples Mac OS X zu diesem Zeitpunkt zu bieten hatten. Der Name dieser Entwicklung: Xgl, und damit verbunden ein anderes Stück Software, das wahrscheinlich mehr Leuten ein Begriff sein dürfte: Compiz.

Compiz
Der bekannteste Compiz-Effekt überhaupt: der Desktop-Würfel.
Proschofsky / STANDAD

Das Zusammenspiel dieser beiden Komponenten ermöglichte allerlei aufwendige 3D-Effekte. Virtuelle Desktops ließen sich plötzlich auf einen Würfel spannen, beim Wechsel wurde das mit einer passenden Animation visualisiert. Fenster wackelten beim Verschieben unter dem Mauszeiger herum, wurden sie minimiert, gab es ebenfalls eine Art Lampengeisteffekt. All das war für jene, die das zum ersten Mal sahen, irgendwie – und ziemlich ungewohnt – "wow".

Wenig überraschend sollte diese Entwicklung schnell das Interesse der Linux-Community auf sich ziehen. Es folgte eine Fülle von anderen Effekten und Erweiterungen, wer wollte, konnte Fenster etwa beim Schließen regelrecht abbrennen lassen.

Die Person hinter der Software

Federführend hinter all dem stand ein Entwickler des Softwareherstellers Novell: David Reveman hatte Xgl erstmals Ende 2004 angekündigt, im Verlauf des nächsten Jahres wurde es ein paar Mal öffentlich vorgezeigt, bevor die offizielle Freigabe dann im Februar 2006 erfolgte.

David Reveman zeigt in einem älteren Video Compiz kurz vor
howdoyoulinux

Die Zielsetzung von Xgl war es, eine Art modernisierten Ableger des unter Unix- und Linux-Systemen damals dominierenden X.org-Grafikservers zu schaffen. Einen Ableger, der ganz auf Basis von 3D-Bibliotheken wie OpenGL lief. Dazu passend entwickelte Reveman mit Compiz noch einen Fenstermanager namens Compiz, der auf Client-Seite all diese Möglichkeiten nutzte und in Kooperation mit gewohnten Desktop-Umgebungen eingesetzt werden konnte.

Linux-Primus: Novell

Dass es ausgerechnet ein Entwickler von Novell war, der für diesen Durchbruch verantwortlich zeichnete, mag im Nachhinein seltsam klingen, war damals aber alles andere als überraschend. Das Unternehmen war Mitte der 2000er-Jahre davon überzeugt, dass dem Linux-Desktop die Zukunft gehört, und übernahm in kurzer Abfolge zwei zentrale Firmen aus diesem Bereich: die auch heute noch bekannte Linux-Firma SUSE sowie den Softwarehersteller Ximian.

Compiz
Eine grafisch aufwendige Task-Ansicht in Compiz.
Proschofsky / STANDAD

Gerade Ximian war es, das damals massiv in Richtung Linux-Desktop pushte, entsprechend stammte auch Reveman aus dieser Ecke der Linux-Welt. Der Name dieser Firma mag dabei vielen nichts mehr sagen, seine Gründer sind aber durchaus bekannte Persönlichkeiten aus der Techwelt: Neben Miguel de Icaza, der unter anderen den Linux-Desktop GNOME sowie den freien .Net-Nachbau Mono initiierte, stand Nat Friedman an der Spitze, der zuletzt Github-Chef bei Microsoft war und dort mit dem Copilot schon recht früh ein KI-gestütztes Coding-Tool einführte.

An dieser Stelle eine kurze Randbemerkung: Dass sich Novell ausgerechnet für diese zwei Firmen entschieden hat, mag im Nachhinein keine sonderlich schlaue Idee gewesen sein. Stammten diese doch aus zwei komplett unterschiedlichen Lagern des Linux-Desktops. Hier Ximian mit seinem Gnome-Fokus, dort SUSE als die KDE-Distribution schlechthin. Konflikte waren da geradezu vorprogrammiert und folgten auch prompt. Ob das am Ausgang der Geschichte – Novell stellte seine Ambitionen ein paar Jahre später wieder ein – etwas geändert hätte, ist natürlich noch einmal eine andere Frage. Geholfen hat es jedenfalls nicht.

Begeisterung hat Folgen

Aber zurück ins Jahr 2006: Damals sorgten Xgl und Compiz nämlich für eine in der Linux-Welt ziemlich seltene, weil fast ungeteilte Begeisterung. Das führte wiederum dazu, dass Xgl schnell unnötig wurde. Die notwendigen Bestandteile wurden nämlich bereits wenige Monate später in das offizielle X.org übernommen, was die Einrichtung und Nutzung von Compiz weiter vereinfachte.

Einige der mit Compiz möglichen Effekte.
mpgarate

Die Begeisterung rund um Compiz führte aber schnell auch zu dem, was man aus der Open-Source-Welt irgendwie kennt: Meinungsverschiedenheiten über die weitere Ausrichtung. Also kam es zu ein paar Abspaltungen, gefolgt von Wiedervereinigungen. Das änderte aber nichts daran, dass sich Compiz bald in zahlreichen Linux-Distributionen wiederfand, und gerade bei Ubuntu eine zentrale Rolle einnahm.

Schritt für Schritt

Der Abstieg begann ein paar Jahre später: Die großen Desktops wollten lieber eigene, weniger ausladende Effekte implementieren. Das Paradebeispiel hierfür ist Gnome, das seit der Veröffentlichung von Gnome 3 im Jahr 2011 fix auf einen eigenen Fenstermanager namens Mutter setzte – oder eigentlich: setzt. Das ist nämlich noch heute so. Und auch bei KDE begann damit, grafisch aufwendige Effekte lieber direkt in den eigenen Fenstermanager Kwin zu integrieren.

Und doch hielt sich Compiz noch einige Jahre, vor allem dank Ubuntu, wo es die Basis des eigenen Desktops Unity bildete. Mit dem Abschied von Unity in Ubuntu 17.10 – und hin zu Gnome – verschwand aber auch dort Compiz aus dem Default-Desktop.

Compiz
Hinter dem Desktop liegt das Meer.
Proschofsky / STANDAD

Es ist noch da

Das heißt aber nicht, dass die Software damit Geschichte ist. Zwar wird Compiz schon länger nicht mehr groß entwickelt, prinzipiell läuft es aber sehr wohl noch. Wer etwa ein Linux Mint mit Mate-Desktop nutzt, kann dort mit einem Klick Compiz aktivieren. Auch zahlreiche Einstellungen für die Fülle an mittlerweile gebotenen Effekten stehen dort bequem zur Hand.

Reveman selbst hat dem Projekt übrigens bereits vor längerem den Rücken gekehrt. Wechselte er doch im Jahr 2011 zu Google, wo er unter anderem an der Integration von Android-Apps in Chrome OS sowie generell am Grafiksystem des Linux-basierten Betriebssystems mitarbeitete.

Compiz
Zugegeben ist nicht jeder Effekt wirklich sinnvoll, aber darum geht es auch nicht immer.
Proschofsky / STANDAD

Ein äußerst erfolgreiches Scheitern

Im Nachhinein betrachtet, ist es eigentlich nicht die ganz große Überraschung, dass Compiz kein langfristiger Erfolg beschieden war. Den Desktop mit einer 3D-Animation zu wechseln, mag zwar eine nette Spielerei sein, auf Dauer ist das aber wohl den meisten schlicht zu viel, ähnlich verhält es sich mit den "Wobbly Windows" und vielen anderen Spielereien.

Und doch zeigt dieses Beispiel, wie wichtig solch oft gescholtene optische Gimmicks für die Weiterentwicklung des Desktops als Ganzes sind. Denn was Compiz sehr wohl geschafft hat, ist, einen Innovationsschub rund um die Grafikdarstellung unter Linux auszulösen. Nicht nur im Grafikserver selbst und bei der Entwicklung von dessen Nachfolger Wayland, sondern auch bei der 3D-Unterstützung in den genutzten Treibern und natürlich für die allgemeine 3D-Beschleunigung des Desktop-Geschehens.

Insofern: Danke, Compiz! (Andreas Proschofsky, 7.1.2024)