Mit Wasser gefüllte Kondome
Still life of condoms suggesting male and female anatomy
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Unter die Haut gehen. In den Körper hineinkriechen. Das Biologische zu fassen versuchen. Der "scientific turn" des 21. Jahrhunderts hat vor den Feuilletons großer Zeitungen nicht haltgemacht. Im Gegenteil. Einst strikt der Wissenschaftssektion vorbehaltene, eher trockene Themen werden im Kulturteil diskutiert, kommentiert und ausgebreitet. Die Revolution des entschlüsselten und sequenzierten menschlichen Genoms durch den US-amerikanischen Biochemiker Craig Venter war einst einer großen konservativen Zeitung für Deutschland gar mehrere großformatige Feuilletonseiten wert, wobei der Unterhaltungswert sich deutlich im unteren Bereich bewegte.

Auch in den Arbeitszimmern von Dichterinnen und Autoren hielt der Biologismus novus, das Interesse für Naturwissenschaftliches, Einzug. So schrieb Hans Magnus Enzensberger über die Chaostheorie, Raoul Schrott sang in Erste Erde episch von DNA, Planeten, Kosmologischem, und der Lyriker Durs Grünbein inkorporiert gern Erkenntnisse aus den scheinbar exakt beobachtenden Disziplinen in seine Texte. Der salonextremistischen Grenzüberschreitungen zugeneigte Franzose Michel Houellebecq schließlich ließ in Vernichten (2022) seine Hauptfigur an einem Mundhöhlenkarzinom à la Sigmund Freud letal leiden.

Lewis Dartnell
Lewis Dartnell, "Being Human. Wie unser Körper Geschichte schrieb". € 27,50 / 396 Seiten. Aufbau, Berlin 2023
aufbau

Wir sind Affen

Unter die Haut gehen. In den Körper hineinkriechen. Diesen Körper in seinen Teilen beschreiben – das machte auch der französisch-amerikanische Literaturprofessor und Experimentalautor Raymond Federman in seinem 2005 erschienenen spielerischen Nichtautofiktionsbuch Mein Körper in neun Teilen, einem Versuch über den Menschen als Quasi-Affe.

Wir sind Affen. Lewis Dartnell meinte mit diesem Wir uns Menschen. Mit dem Satz "Wir sind Affen" begann der englische Astrobiologe und Professor für Wissenschaftskommunikation an der University of Westminster in London 2019 sein Buch Ursprünge. Wie die Erde uns erschaffen hat. Er beendete es mit dem Satz "Wir sind Geschöpfe der Erde".

Drehte sich dieser Band um das Zerbrechen von Kontinenten und Klimaveränderungen in der Urgeschichte, sodass die Erde anders aussah, sich anders entwickelte und der Mensch zu wandern begann, sich über den Globus auf der Suche nach evolutionär vielversprechenden Habitaten verstreute, so widmet sich Dartnell in Being Human der fleischgewordenen Historie, dem menschlichen Körper.

Wunder der Evolution

Die humane Physiologie ist in der Regel ein Wunder der Evolution, in vielen Fallexemplaren fein getunt, subtil abgestimmt auf Überleben und Kontrolle, zu sprachlicher Kommunikation meistenteils mehr als befähigt und dabei in sich staunenswert geschützt. Dartnell: "Wir Menschen sind eine hochintelligente und mit einzigartigen Fähigkeiten ausgestattete Affenspezies. Nicht nur unser komplexes Gehirn ist ein Wunder der Evolution, auch unser Körper ist eine technische Meisterleistung."

Andererseits haben sich evolutionäre Veränderungen nicht unbedingt als Verbesserung erwiesen. Der aufrechte Gang belastet die Knie, das Rückgrat ist für das Gewicht des Schädels wie des restlichen Körpers, dessen Bewohner sich in der westlichen Hemisphäre habituell fehl-, weil zu fett, zu salzig, zu süß ernährt, zu schwach, sodass viele an Rückenschmerzen und an weiteren Zivilisationskrankheiten leiden. An Hand- und Fußgelenken finden sich sinnlose, übrig gebliebene Knochen. Die menschliche DNA ist von Defekten durchzogen, was zur Folge hat, dass der Mensch sich ausgewogener ernähren muss, zumindest es sollte, als fast alle anderen Spezies.

Es gibt eine Fülle an Evolutionskompromissen. Ebendiese legt Dartnell instruktiv wie kundig unters Erkenntnismikroskop. Am Ende dieses Buches steht die etwas konsternierende Einsicht: Der Mensch ist gut aufgestellt, zumindest in evolutionärer Hinsicht. Aber er könnte physiologisch weitaus besser sein. Weil die Evolution nicht immer nach dem langfristigen Optimum strebte, sondern sehr menschlich lieber kurzfristige Verbesserungen anpeilte, dessen Folgen zwiespältig, manchmal lediglich eine Betaversion waren. Was es heißt, menschlich zu sein, also fragil und verletzlich und verbesserbar, davon erzählt Dartnell. Er führt auch aus, wie und dass biologische Verhältnisse und Zusammenhänge sich auf Gesellschaftliches auswirken, auf Gesellschaften, auf Volkswirtschaften, auf Kriegerisches.

Florian Werner
Florian Werner, "Die Zunge. Ein Portrait". € 25,50 / 224 Seiten. Hanser, Berlin 2023
Hanser Berlin

Mitten im Glossozän

Vor Konflikten und Kriegen stand in der Regel Sprachlosigkeit. Dabei hat ja jeder Mensch eine Zunge, um zu artikulieren und zu kommunizieren. Er kann verbal Flagge zeigen, indem er seine Zunge zeigt. Oder er kann die Zunge ins Feld führen als ikonisches Werbemotiv wie die Rolling Stones. Zunge zeigen, das ist eine leicht kindliche Beleidigung, im theokratisch-tyrannischen Iran aktuell hingegen ein Tabubruch, ein Skandal. Zunge zeigen dient außerdem der Einschüchterung inklusive kannibalischer Einverleibungsdrohung, man denke an den Haka-Tanz der Maoris, oder wird zur Befriedigung erotischer Sonderwünsche heran- und herausgezogen.

Der Kulturhistoriker Florian Werner, der zuvor zwei ausnehmend skurrile Objekte in Buchform porträtierte, die Stadt Stuttgart – für alle Nicht-Stuttgarter ein so ungustiöses Thema, wie es das Zentrum der Stadt in Schwaben architektonisch ist – und die Autobahnraststätte, widmet dem Muskel in der Mundhöhle ein glossolal kolossales Buch.

Passioniert, wenn auch hie und da einige Beispiele aus der Vergangenheit zugunsten popkultureller Gegenwartsexempel ignorierend, schreibt er über die diversen Eigenschaften der Zunge, übers Kosten und Schmecken, Küssen, Stechen und Sprechen, übers Abschneiden und Staunen. Dabei fristet die Zunge ja mit ganz wenigen Ausnahmen ein Schattendasein. Werner bringt in seiner Glossolalie-Promenade Licht in ihre Historie, die er sogar mit Pränatalem einsetzen lässt. Denn Föten benutzen ab der 14. Schwangerschaftswoche ihre Zunge, um am Daumen zu nuckeln, später wird mit der Zunge die Milch gebende Mutterbrust erkundet. Auch etymologisch spielt das trickreiche Oralorgan eine eminent zugespitzte Rolle, ob man sie nun hüten soll, sie gespalten ist oder ob sie Krankheiten anzeigt: Eine Himbeerzunge etwa fungiert als Indiz für Scharlach, die sogenannte Lackzunge signalisiert Leberzirrhose. So ist die Zunge ein Politikum, vor allem, wenn sie mal wieder schneller ist als der eigentliche Denkvorgang eine Vierteletage höher.

Anja Zimmermann
Anja Zimmermann, "Brust. Geschichte eines politischen Körperteils". € 28,– / 272 Seiten. Wagenbach, Berlin 2023
Wagenbach

Unübersehbare Brust

Theodor W. Adorno 1969, der sich im Hörsaal von barbusigen, ihn – den hochgeschlossenen Anzugträger, der, wie man inzwischen weiß, erotisch mehr als aufgeschlossen war – bedrängenden Studentinnen konfrontiert sah, und Marge Simpson, die Verbrennung von BHs und die feministische Gruppe Femen, die mit blankem Oberkörper aktivistische Proteste in Szene setzt. Überall unübersehbar: die Brust. Diese kreist die habilitierte Kunsthistorikerin Anja Zimmermann in einem neuen Buch ein.

Der Verlagswerbung, die eine einzigartige Kulturgeschichte in Aussicht stellt, widerspricht sie selbst gleich. Ihr Buch, erklärt die Deutsche, die seit mehreren Jahren am Projekt "Geschlechterwissen in und zwischen den Disziplinen" der deutschen Universität Oldenburg mitwirkt, sei weder eine vollständige Kulturhistorie der Brust von der Steinzeit bis zum Cyberspace noch eine weltumspannende, sondern eher "ein interessegeleiteter Blick auf einen in der westlichen Kultur hochgradig politisierten Körperteil". Immerhin. Denn das Verhältnis ist schon äußerst widersinnig. Im öffentlichen Raum, in Werbung, TV, Popmusik ist die Brust eminent, wie hier deutlich wird, in der akademischen Wissenschaft gilt Mammografisches wohl immer noch als anstößig.

Heather Radke
Heather Radke, "Vom Hintern. Die Geschichte einer Rundung". € 21,50 / 325 Seiten. Piper, München 2023
Piper

Leck mich

Eine weitere anatomische Mikrohistorie liegt zu einem anderen Körperteil vor, zum zwiegespaltenen Derrière. Zu Nates, clunes, Regio glutealis. Der menschlichen Kehrseite. Dem Sterz, den Goethes Götz von Berlichingen zum zotigen Hohn verwendete und auf den Mozart einen sechsstimmigen Kanon komponierte, Köchelverzeichnis Nr. 382c, wobei der Originaltext, der mit "Leck mich im A g’schwindi, g’schwindi"! beginnt, posthum vom Musikverleger kurios gesäubert wurde zum sanitär harmlosen "Lasst uns froh sein! / Murren ist vergebens!". Der originale Text wurde erst 1991 an der analmusikalisch diesbezüglich recht unverdächtigen Harvard University entdeckt.

Heather Radke, Journalistin und vormals Museumskuratorin in Chicago, beugt sich entspannt wie unterhaltsam über diesen Körperteil, der umgangssprachlich zusammengekniffen werden muss oder platt ist, den man nicht hochbekommt oder an dem ein ganz bestimmter Ort liegt (der, an dem du wohnst!), an dem einem eine Sache vorbeigeht, der offen ist – anatomisch stets eine wagemutige Challenge – oder der gleich den betreffenden Mensch im Ganzen ersetzt, in den gekrochen wird, den man anderen aufreißt oder der flatulierend odiöse Flötentöne beisteuert.

Schwacher Penis

Tatsächlich ist der Podex, der Popsch politisch. Ob nun mit ihm getwerkt wird oder ob er lüstern angestarrt wird. Ob er ängstigt, ob er exotisch ist oder hypersexualisiert oder auch eine Form von Selbstermächtigung. Oder ein Phänomen kultureller Appropriation. Letzteres etwa, als Miley Cyrus ihre "Hannah Montana"-Phase abschüttelte, indem sie in einem Video inmitten vier athletischer afroamerikanischer Tänzer twerkte und dies aus dem queeren Untergrund von New Orleans entführte, wo der Tanz eine staunenswert lange, bis ins 18. Jahrhundert zurückreichende Geschichte hatte. Damals versammelten sich Afroamerikaner und Indigene zum Twerken am Sonntag. Die rhythmische, sinnlich-aggressive Bewegung des Hinterteils war Protest gegen die Weißen, gegen rigides Christentum und dessen Kultur, viel später dann die Renitenz der queeren Community wider calvinistische Heterokonformität.

Radke tischt eine Fülle an Details durch viele Jahrhunderte auf, abseitige, erstaunliche, erhellende, polarisierende, Riechgrenzen überschreitende. Das reicht von Furzklubs im London des 18. Jahrhunderts bis zu Models und deren rückseitiger Physiognomie, Beyoncés Bootylicious und der Internet-Implosion qua Kim Kardashians glutealer Fotosession. Denn, wie Janelle Monae im Song Q.U.E.E.N. anthropologische Körperteilkommunikation analytisch bündig zusammenfasste: "No, no, no, the booty don’t lie".

Oliver Stöwing, Volker Wittkamp
Oliver Stöwing, Volker Wittkamp, "Gut aufgestellt. Alles über den Penis". € 18,– / 336 Seiten. Piper, München 2023
Piper

Schwächster Körperteil

Und wie steht es dann mit jenem Organ an der Vorderseite männlicher Exemplare der Menschheit, das ab und an nicht stehen will? Welche Lügen werden dann bemüht, welche offenbart?

Der deutsche Facharzt für Urologie und TV-Doc Volker Wittkamp und der Journalist Oliver Stöwing taten sich zusammen, um über jenes sekundäre Geschlechtsorgan zu räsonieren, das einen Mann zum Mann macht – den Penis. Das Membrum virile ist tatsächlich eine noch größere Tabuzone als der Arsch, obschon das Begattungsorgan faktisch ja viel kleiner ist. Und die Größe des Phallus einer Hälfte der Menschheit immer wieder Selbstzweifel auferlegt.

Des unpaaren röhren- oder rinnenförmigen Organs Funktionsweise wird vom Duo ebenso durchleuchtet wie das Verhältnis zu Kunst, Krankheiten und artifizieller Stimulation via Pornografie und deren Nebenwirkungen. Nicht selten ist ausgerechnet der Penis das schwächste Teil eines männlichen Körpers. Und der männlichen Sexualität. Wenn "er" nicht will. Wenn "er" erektil mehr schaffen soll als physisch und anatomisch möglich, also Stress hat. Das wird angeregt in kurzen Kapitelunterhäppchen dargeboten, manchmal eher auf dem anekdotischen Arbeitsniveau Stöwings für Bunte und noch buntere Illustrierte. Wenn Wittkamp sich mehr medizinischen und medizinhistorischen Raum nimmt, wird es interessant und lehrreich.

Fiktion und Filler

In Surfiction, seiner Begründung des eigenen Schreibmodus, sagte Raymond Federman: "Fiktion und Autobiografie sind austauschbar, so wie Leben und Fiktion, Fakten und Fiktion, Sprache und Fiktion, Geschichte und Geschichten austauschbar sind. – Oder um es etwas anders auszudrücken: Alles ist Fiktion, weil alles mit der Sprache beginnt. Das große Schweigen innen drin muss in Wörter verwandelt werden, um zu sein und etwas zu bedeuten."

Verwandlung des Körpers kann wortwörtlich auch außerhalb der Sprache passieren. Entweder als ein stets unerfüllbarer Neujahrswunsch, ab morgen ein besseres, gesünderes, körperfitteres Leben beginnen zu wollen – endlich! versprochen! wo, bitte, geht’s zum nächsten Fitnessstudio? – oder, wie die Vereinigung der Deutschen Ästhetisch-Plastischen Chirurgen Anfang Mai des vergangenen Jahres auf ihrer Jahrespressekonferenz vermeldete, ganz handgreiflich. Mittels Skalpells und anderer Instrumentarien.

Denn deutlich zu registrieren sei, so die Innung der Schönheitsoperateure, der Einfluss sozialer Medien und des medialen Eigenoktrois von Schönheits-, Taillen-, Rückseiten- und Unterleibsidealen mittels chirurgischer Optimierung. 98.500 Schönheitsoperationen wurden zwischen Mai 2022 und Mai 2023 in Deutschland gezählt, fünf Prozent mehr als in den zwölf Monaten zuvor. Im Corona-Jahr 2021 allerdings waren es beachtliche 15 Prozent mehr gewesen, mehr Behandlungen mit Botox, Hyaluronsäure, Fillern und mehr Fettabsaugungen. Platz vier belegte der Wunsch nach Lippenkorrektur, gefolgt von Oberlidstraffung. Erst dann folgte die Brustvergrößerung. Und wo bleibt die plastisch aufgespritzte Keule à la Louis de Funès?

Und jetzt ab zum Bauch-Beine-Po-Training vor der Spiegelwand, auf dass sich darin die Welthistorie des Körpers und seiner regulatorisch-egomanischen Selbstoptimierung gut aufgestellt, wahlweise mamillar, männlich oder cis, aufregend aufragend abzeichne. (Alexander Kluy, 6.1.2024)