Auf einem Hügel bei dem Dorf Cerne Abbas in der südwestenglischen Grafschaft Dorset residiert ein gewaltiger nackter Riese. 55 Meter misst er vom Scheitel bis zur Sohle, mit seiner Rechten schwingt er eine 37 Meter lange Keule. Insgesamt erstreckt sich das Scharrbild über eine Länge von 66 Metern, es besteht aus 60 Zentimeter breiten Gräben, die in die grasbewachsene Hügelflanke gegraben und mit weißem Kalkschotter aufgefüllt worden waren.

Riese von Cerne Abbas, Geoglyphe
Über Ursprung, Schöpfer und Zweck des Riesen von Cerne Abbas gibt es viele Hypothesen.
Foto: National Trust/Ray Gaffney

Irritierend für die Kirche

Beeindruckend ist auch sein elf Meter langer erigierter Penis. "Großbritanniens berühmtester Phallus" war schon so manchem Kirchenmann ein Dorn im Auge. In den 1930er-Jahren veranlasste der damalige Bischof von Salisbury, die Scham des Riesen von Cerne Abbas züchtig zu bedecken, etwa durch die Pflanzung eines kleinen Hains aus Feigenbäumen. Zum Glück verweigerten die englischen Behörden jegliche Veränderungen an dem Scharrbild.

Die Geoglyphe beschäftigte seit jeher Historiker und Archäologinnen. Wer den Riesen erschaffen hat, wann und vor allem aus welchem Grund, war Gegenstand zahlreicher Theorien, Mythen und Geschichten. Die plausibleren Ideen reichen von einem alten keltischen Fruchtbarkeitssymbol über eine Darstellung des Herkules aus der Römerzeit bis hin zu einer Karikatur von Oliver Cromwell aus dem 17. Jahrhundert, wobei die Keule als Hinweis auf die repressive Herrschaft des Lordprotektors und der Phallus als Spott über seinen Puritanismus gedeutet wurden.

Aus dem Frühmittelalter

Letzteres gründet sich auf die Tatsache, dass der Riese von Cerne Abbas erstmals im Jahr 1694 dezidiert in schriftlichen Aufzeichnungen auftauchte – ganz im Unterschied zum Weißen Pferd von Uffington in Oxfordshire. Dieses stilisierte Scharrbild eines Pferds im Galopp wurde bereits in Dokumenten aus dem 12. Jahrhundert erwähnt und dürfte laut jüngsten Datierungsversuchen annähernd 3.000 Jahre alt sein.

Der Cerne-Abbas-Gigant hingegen ist deutlich jünger, wie eine Untersuchung vor drei Jahren ans Licht brachte. Im Jahr 2021 ergaben Sedimentanalysen im Auftrag des National Trust, dem die Stätte gehört, dass die Konturen des Riesen wahrscheinlich im neunten oder zehnten Jahrhundert in angelsächsischer Zeit in den Untergrund gegraben wurden. Zu welchem Zweck, das könnte nun eine Gruppe von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern der Universität Oxford herausgefunden haben.

Pferd von Uffington, Geoglyphe
Das Weiße Pferd von Uffington (hier eine Luftaufnahme) dürfte annähernd 3.000 Jahre alt sein. Der Weiße Riese dagegen stammt aus jüngerer Zeit.
Foto: National Trust

Versammlung beim Herkules

Die neuen Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass der Cerne-Abbas-Riese ursprünglich tatsächlich den griechischen Heros Herkules darstellen sollte und als weithin sichtbare Markierung für die westsächsischen Armeen gedient hatte. Wie das Team um Helen Gittos und Thomas Morcom in der Fachzeitschrift "Speculum" der Medieval Academy of America berichtet, sei Herkules im Mittelalter eine Figur mit besonderer Symbolkraft gewesen, ein Held mit Fehlern, der sowohl verehrt als auch geschmäht wurde. Besonders im 9. Jahrhundert, als die Region von Wikingern angegriffen wurde, sei das Interesse an ihm besonders groß gewesen.

Die Lage des Riesen an einem gut sichtbaren Bergrücken nahe eines wichtigen Verkehrsweges machten ihn zu einem idealen Sammelpunkt für die angelsächsischen Soldaten, etwa von König Alfred dem Großen, der engagiert gegen die Eindringlinge aus dem Norden vorging. Der lokale Zugang zu frischem Wasser und den Vorräten der örtlichen Landgüter ermöglichte zudem eine gute Versorgung der Truppen.

"Dieses Land war im 9. und 10. Jahrhundert im Besitz der westsächsischen Königsfamilie, und wir sind im Besitz von historischen Beschreibungen dieses Landstrichs", berichtete Gittos. "Diese Berichte geben Zeugnis von einer Heerstraße, die zum Giant Hill führte", so die Expertin für frühmittelalterliche Geschichte.

Mönche sahen Eadwold

Auch in einem Manuskript aus dem 11. Jahrhundert, das in der British Library aufbewahrt wird, findet der Hügel Erwähnung. Im neunten Jahrhundert soll demnach ein örtlicher Eremit, der Heilige Eadwold, seinen Stock auf dem Gipfel aufgepflanzt haben. Mönche, die im elften Jahrhundert im Kloster am Fuße des Giant Hill lebten, sahen in dem Riesen daher vermutlich ein Abbild von Eadwold.

„Dies ist eine der vielen Arten, wie der Riese im Laufe der Jahrhunderte umgedeutet wurde", so Gittos. "Eine große, ganz offensichtlich nackte heidnische Figur vor der Haustür zu haben war für die Mönche eine unangenehme Tatsache, und sie ließen sich auf eine intellektuelle Interpretation ein, indem sie ihn mit ihrem Schutzheiligen Eadwold in Verbindung brachten", ergänzte Morcom. (Thomas Bergmayr, 5.1.2024)