Alte Dame vor Postkasten der Royal Mail.
Der vormals staatliche Postkonzern Royal Mail, mittlerweile seit Jahren privatisiert, kämpft mit einem alten Skandal, in dem Geschädigte immer noch auf justizielle und finanzielle Wiedergutmachung warten.
AFP/JUSTIN TALLIS

Alan Bates weiß gar nicht recht, wie ihm geschieht. Seit mehr als 20 Jahren kämpft der frühere Angestellte der halbprivaten Firma Post Office um Gerechtigkeit für sich und Hunderte seiner Leidensgenossen und- genossinnen. Lange Zeit sah es so aus, als würde er als gescheiterter Don Quijote enden. Doch plötzlich ist der Fall des heute 68-Jährigen in aller Munde.

Das liegt an einer zu Jahresbeginn ausgestrahlten Miniserie des Kommerzsenders ITV: Mr Bates vs the Post Office hat einen der schlimmsten Firmen-, Politik- und Justizskandale dieses Jahrhunderts ins Bewusstsein der britischen Öffentlichkeit gezerrt und einen Sturm der Empörung ausgelöst.

Neue Ermittlungen

Plötzlich ermittelt Scotland Yard nicht nur gegen unbedeutende Computerspezialisten, sondern erwägt ein Betrugsverfahren gegen die Firma Post Office Counters (POC) und ihre Verantwortlichen. Eine Frage der Zeit dürfte sein, bis POC das historisch bedingte Recht entzogen wird, Privatanklagen gegen Individuen vor Gericht zu bringen. Im Parlament werden außerdem Rufe laut, dem für die defekte Software Horizon verantwortlichen japanischen Computergiganten Fujitsu sämtliche Regierungsaufträge zu entziehen.

Was praktisch über Nacht sogar den Premierminister Rishi Sunak ("ein gravierender Fall von Unrecht") beschäftigt, schwelt seit Jahren – und begann im vergangenen Jahrhundert. Damals sollte die für den Publikumsverkehr zuständige POC – damals schon eine Tochter des Postkonzerns Royal Mail – durch das neue Computersystem Horizon effizienter gemacht werden. Alle schon bald auftretenden Mängel legte die Firma jenen Tausenden von Vertragsangestellten zur Last, die in eigener Verantwortung die teils winzigen Postämter im ganzen Land betreuten.

Zu ihnen zählte Alan Bates. Erstmals im Jahr 2000 fielen dem für seine penible Buchhaltung bekannten Mann unerklärliche Diskrepanzen in seinem Postamt im walisischen Llandudno auf. Weil er sich weigerte, einen Fehlbetrag aus eigener Tasche zu bezahlen, kündigte ihm POC – und Bates begann mit seinen Ermittlungen. Am Ende des Jahrzehnts verfügte eine Betroffenengruppe über knapp 100 Mitglieder, und allesamt hatten dasselbe Schicksal erlitten: Nach teils jahrzehntelanger untadeliger Arbeit für POC wurden sie plötzlich als Bilanzfälscher und Betrüger denunziert und vor Gericht gezerrt.

Unschuldig hinter Gittern

Mehr als 900 Menschen wurden verurteilt und teilweise monatelang ins Gefängnis gesteckt, gestützt auf falsche Belege der Horizon-Experten. Viele trieb der Konflikt mit ihrem Arbeitgeber in den finanziellen und emotionalen Ruin, eine Handvoll beging Selbstmord.

Inzwischen hat zwar der High Court in einem Musterverfahren den Horizon-Geschädigten Recht gegeben und 39 Verurteilungen aufgehoben. Auch kam es zu ersten Schadensersatzzahlungen. Doch hunderte Unschuldige warten noch immer auf ihre justizielle und finanzielle Wiedergutmachung.

Dass hingegen keiner der verantwortlichen Manager hinter Gittern sitzt, verletzt bei vielen Inselbewohnern das Gefühl der Fairness. Einstweilen konzentriert sich die Wut auf Ersatzhandlungen. So erreichte eine gegen die frühere CEO Paula Vennells gerichtete Petition binnen weniger Tage knapp eine Million Unterschriften. Das Ziel: Der Multimillionärin soll der königliche Orden CBE aberkannt werden. Von allen lukrativen Verwaltungsratsposten im öffentlichen und privaten Sektor war Vennells nach der Entscheidung des High Court zurückgetreten; die ordinierte Priesterin der anglikanischen Staatskirche gab auch ihre unbezahlte Rolle als Predigerin auf.

Allerdings kam es dazu erst nach massivem öffentlichem Druck. Der Tory-Abgeordnete James Arbuthnot war durch eine Bewohnerin seines Wahlkreises auf den Post-Office-Skandal aufmerksam gemacht worden. Zunächst im Unterhaus, seit 2015 im Oberhaus hat Arbuthnot die Horizon-Missstände gegeißelt. Das Vorgehen der Firma während Vennells’ Amtszeit, höhnte der Lord schon 2020, sei "grausam und inkompetent" gewesen: "Sie sah sich mit einer moralischen Alternative konfrontiert und wählte den falschen Weg, wodurch Hunderte fälschlich beschuldigt, gedemütigt und ruiniert wurden."

Schuldzuweisungen

In der Politik sieht alles danach aus, als würde sich der Zorn der Briten vor allem gegen die Liberaldemokraten richten. Dabei fiel die Entscheidung für das Horizon-System trotz schon damals erheblicher Bedenken in der Amtszeit der Labour-Regierung unter Premier Tony Blair; politische Verantwortung für die Aufsicht über die halbstaatliche, seit 2012 von Royal Mail unabhängige Firma lag bei den jeweiligen Labour- und Tory-Premierministern. Hingegen war die kleine liberale Partei im vergangenen Vierteljahrhundert gerade einmal fünf Jahre (2010–15) an der Regierung beteiligt.

Allerdings verwalteten liberale Politiker, darunter ausgerechnet auch der derzeitige Parteichef Edward Davey, das zuständige Wirtschaftsressort. Ihre Amtszeiten fallen in jene Periode, in der die Firma alle längst bestehenden Zweifel gegen das Computersystem nicht nur verneinte, sondern allem Anschein nach auch aktiv vertuschte. (Sebastian Borger aus London, 8.1.2024)