Kafka
Der ewige Sohn mit dem Kindheitstrauma: Autor Franz Kafka, hier ungefähr 1906.
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Jemand musste den Kolonialwarenhändler Hermann K. bis aufs Blut gereizt haben. Denn ohne dass der kleine Franz Kafka etwas Böses getan hätte (er hatte lediglich um Wasser gebeten), trug ihn sein Vater aus der Wohnung hinaus auf die Pawlatsche – und ließ ihn "dort allein vor der geschlossenen Tür ein Weilchen im Hemd stehen".

Besagtes Kindheitserlebnis gilt als verbürgt. Verzeichnet steht es im weltberühmten Brief an den Vater, geschrieben 1919. Für Kafka (1883–1924), den "ewigen Sohn" (Peter-André Alt) und Verfasser von Der Process, Das Schloss oder Die Verwandlung, bedeutete die väterliche Erziehungsmaßnahme die schlimmstmögliche Wendung. Die Aktion des riesenhaften Mannes zerrüttete die Psyche des Kleinkindes, sie erschütterte sein Vertrauen in die Welt. Dreikäsehoch Franz, grundlos aus der Mitte der Familie verbannt, litt noch Jahre später, wie er schreibt, unter der quälenden Vorstellung, ein "Nichts" zu sein.

Ins Licht des soeben angebrochenen Kafka-Jahres gerückt hat die Szene Gerhard Rieck. Der Wiener Publizist und Kafka-Forscher gibt vor, den Generalschlüssel für die aufklärungsbedürftige Literatur des Prager Autors gefunden zu haben: ein für alle Mal.

Kein Geheimnistuer

Kafka ist nicht rätselhaft lautet der Titel seiner gerade einmal 130 Seiten umfassenden Interpretationsleistung. Mit der Unerbittlichkeit einer Turmuhr beginnt er jedes seiner Kapitel mit demselben Satz: "Kafkas Texte sind die Beschreibung des Kampfes zwischen unversöhnlich gegensätzlichen Persönlichkeitsanteilen." Hundert Jahre Kafka-Forschung waren offenbar für die Katz. Unzählige Regalkilometer voller Sekundärliteratur, Einlassungen zu Kafkas Judentum, zu Totalitarismus, Säkularismus, Messianismus, werden von einem Einzelkämpfer mit großer Geste zu Makulatur erklärt.

Der unbefangene Kafka-Freund wähnt sich wie in einer nachgelassenen Erzählung des rätselhaften Pragers. Endlich gibt es die eine, allein ausschlaggebende Deutung; sie soll alle anderen überflüssig machen. Riecks Büchlein ist eine Kampfansage an die geläufigen Dechiffriersyndikate.

Die anderen hätten lediglich Einzelstränge herauspräpariert: Wären gemeinsam mit Kafka hinaus in die weite Welt geschweift. Nichts als leere Kilometer. Hatte nicht schon Bertolt Brecht im dänischen Exil vorgeschlagen, in Kafka nicht den Geheimnistuer und Gottsucher, sondern den Kritiker der kapitalistischen Ausbeutung zu erblicken?

Im Spiegelkabinett

Bei Gerhard Rieck schnurrt das "Kafkaeske" jetzt auf ein Spiegelkabinett zusammen. Durch Kafkas Romanwelten geistern die Karl Roßmanns, die Josef K.s, die Landvermesser, Landärzte et cetera. Sie alle entpuppen sich als gelehrige Masochisten, die sich den Machenschaften ihrer Peiniger nicht zu entziehen vermögen. Verstrickt in Zweikämpfe, stolpern sie in den Untergang. Was noch schwerer wiegt: Sie alle gehören als Instanzen ein und derselben Persönlichkeit an.

Wenn Frauen auftauchen, dann als Doubles. Sie bilden das Echo auf jenes Dienstmädchen, das im Haushalt Hermann Kafkas (Galanteriewaren) dem Sohn des Hauses das Frühstück ans Bett brachte. An Betten, Pfühlen, überhaupt an Beischlafstätten herrscht bei Kafka ohnedies kein Mangel. Väter stehen in einem solchen Bett aufrecht, um das endgültige Verdikt über den Stammhalter zu sprechen (Das Urteil, 1912).

Zu wieder anderer Gelegenheit schaut ein Held wie der nach Amerika ausgewanderte Karl Roßmann anderen beim Beischlaf zu. Eine Unziemlichkeit, die umgehend mit Ausschluss und Vertreibung geahndet wird.

Labyrinthe und Traumata

Man muss nicht Psychoanalyse getrieben haben, um mit der Nase auf die eingangs erwähnte Pawlatschenszene gestoßen zu werden. Womöglich hat Klein Franz die lieben Eltern, indem er quengelte, einfach an der Ausübung ihrer ehelichen Pflichten gehindert.

Riecks Beweisführung übersetzt Realien. Er schleift sie, klopft sie küchenpsychologisch zurecht. Flugs wird ein Generalschlüssel daraus. Der Welt größter Prosakünstler soll ein Minderwertigkeitskomplexler gewesen sein. Sein Kindheitstrauma habe Kafka zur Errichtung seiner Prosalabyrinthe genötigt.

Überhaupt, schrieb Nestroy, habe der Fortschritt an sich, dass er viel größer ausschaut, als er wirklich ist. Womöglich wird uns das Kafka-Jahr 2024 Zentimeter voranbringen: auf der Suche nach der einen Deutung. Kafka soll hervorragend begabt für das Lachen gewesen sein. Bei Rieck können die Nachgeborenen hinterherlachen. Was nichts daran ändert, dass sein provokantes Buch einen anregenden Auftakt zum Jubeljahr abgibt. (Ronald Pohl, 9.1.2024)