Die taiwanesische Präsidentin Tsai Ing-wen bei einer Wahlkampfveranstaltung.
Die taiwanische Präsidentin Tsai Ing-wen (hinter dem Rednerpult) ist nach wie vor beliebt im Land, darf aber nicht mehr antreten.
AFP/YASUYOSHI CHIBA

Die Woche vor der Wahl in Taiwan begann dramatisch. Millionen von Menschen haben am Dienstagmorgen eine Warn-SMS auf ihrem Handy erhalten: Ein chinesischer Satellit sei über dem Luftraum der Insel gesichtet worden. In der nicht ganz korrekten englischen Übersetzung hörte sich das wesentlich martialischer an. Da war von "Missile Flyover" die Rede, also einer Rakete.

Die Taiwaner schocken solche Meldungen ohnehin wenig. Auch nach der Warn-SMS ging das Leben in Taipeh weiter wie bisher. "Wir sind Drohungen aus dem Festland gewohnt, und zwar seit 70 Jahren", sagt Shufen Chen, die in Wirklichkeit anders heißt. "Wir können uns aber auch nicht täglich den Kopf darüber zerbrechen, deswegen versuchen wir, unser Leben so normal wie möglich zu führen."

Wie normal das Leben auf der demokratischen Insel vor China bleiben kann, entscheidet sich auch am kommenden Samstag. Dann wird in Taiwan gewählt. Drei Parteien treten an: Als Favorit gilt die Regierungspartei DPP, sie kommt derzeit laut Umfragen auf knapp 40 Prozent. Die größte Oppositionspartei KMT liegt aktuell zwischen 20 und 30 Prozent. Die TPP, die dritte Partei des ehemaligen Bürgermeisters von Taipeh, Ko Wen-je, gilt zwar mit 15 Prozent als abgeschlagen. Deren Wähler aber könnten am Samstag zur KMT wandern, weshalb die Wahl eine Zitterpartie wird.

Video: Wahl in Taiwan – darum geht es im Konflikt mit China.
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Liberale Demokratie

Die taiwanische Gesellschaft ist in den vergangenen 20 Jahren zu einer der lebhaftesten und liberalsten Demokratien weltweit gewachsen. Großen Anteil daran hat die aktuelle Regierungspartei DPP unter der amtierenden Präsidentin Tsai Ing-Wen. Tsai stärkte die Minderheitenrechte in der diversen Bevölkerung von rund 20 Millionen, setzte sich für die Rechte der LGBTIQ-Gemeinde ein und stand zudem für mehr Unabhängigkeit vom Festland – womit Tsai den Ärger Pekings auf sich zog. Tsai erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit in Taiwan, kann aber wegen einer Amtszeitbeschränkung nicht nochmals antreten. William Lai, Präsidentschaftskandidat von Tsais DPP, steht für eine Fortsetzung dieser Politik.

Zugleich sind die Stimmen, die mehr Autonomie vom Festland wünschen, zahlreicher und lauter geworden. Auftrieb gab es für die DPP durch die brutale Niederschlagung der Demokratiebewegung in Hongkong 2019 und durch die russische Invasion in der Ukraine 2022. Gerade in Teilen der DPP sieht man sich als "Speerspitze der Demokratie" und fürchtet, das nächste "Opfer" eines autoritären Staates zu sein.

Vincent Chao, zuständig für internationale Beziehungen in der DPP, sagt: "Die Sicherheit in der Taiwan-Straße geht uns alle an. Es ist eine der wichtigsten Handelsstraßen der Welt. Und zweitens werden der freie Handel und die Demokratie gerade in der Ukraine verteidigt. Die westliche Unterstützung ist entscheidend, wie es global weitergeht. Siegt der Westen dort, haben die USA mehr Ressourcen, sich auf den Pazifik zu konzentrieren."

Die DPP will im Falle eines Wahlsiegs die wirtschaftliche Entkopplung der Insel vom Festland vorantreiben, um sich so unabhängiger vom Druck Pekings zu machen. Immer wieder dreht es sich dabei um das sogenannte Silizium-Schild der Insel. Taiwan produziert weltweit die modernsten Halbleiter. Sollte Peking tatsächlich die Insel militärisch angreifen oder eine Blockade verhängen, wäre der Schaden für die Weltwirtschaft gewaltig. Neueste Schätzungen gehen davon aus, dass die Kosten eines Krieges bei zehn Billionen Dollar lägen, oder zehn Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. China aber wäre aufgrund der engen Handelsbeziehungen und der Abhängigkeit von taiwanischen Chips überproportional selbst betroffen.

"Den Bären nicht reizen"

Die größte Oppositionspartei KMT setzt deswegen auf Annäherung und gute Beziehungen zu Peking. Die heute demokratische Partei war aus dem Regime Chiang Kai-tscheks hervorgegangen, der 1949 den Bürgerkrieg gegen Maos Kommunisten verloren hatte. Chiang und die chinesische Elite flüchteten daraufhin nach Taiwan, Chiang regierte die Insel bis in die 1990er-Jahre diktatorisch. "Wir sollten den Bären nicht reizen", sagt Alexander Huang, außenpolitischer Sprecher der KMT. "Das Wichtigste ist, einen Krieg zu verhindern. Das geht nur, indem wir im Dialog bleiben." Genau diese Einstellung aber halten viele in der Regierungspartei für gefährlich, da sie eine Art "Appeasement-Politik" gegenüber Peking bedeute.

2014, während der letzten KMT-Regierung unter Präsident Ma Ying-jeou, kam es zur sogenannten Sonnenblumen-Bewegung. Ein geplantes Handelsabkommen mit dem Festland hätte in den Augen der Demonstranten die Insel noch näher an die Volksrepublik gebunden. Nach wochenlangen Protesten machte die Regierung Zugeständnisse an die Protestbewegung. Zwei Jahre später verlor sie die Wahlen an die DPP.

Peking wiederum macht keinen Hehl daraus, einen Sieg der Oppositionspartei KMT zu favorisieren. Via Social-Media-Kanäle versucht die KP gezielt, Falschnachrichten und Gerüchte zu streuen – oder setzt eben auf Einschüchterung durch Flugkörper. Dabei wären viele Menschen in Taiwan froh, wenn sich die Wahlen nicht so sehr um Geopolitik und Großmachtinteressen drehen würden. Mindestens genauso beschäftigen sie nämlich die langen Arbeitszeiten und geringen Löhne für Berufsanfänger, die hohen Immobilienpreise sowie die Energiepolitik des Landes. (Philipp Mattheis aus Taipeh, 11.1.2024)