Schädelknochen
Der Mann von Porsmose aus dem Jungneolithikum wurde durch mehrere Pfeiltreffer getötet. Aus Überresten wie diesen gewinnen Forschende urzeitliche DNA.
Danish National Museum

Wer wir sind, wie wir aussehen und für welche Krankheiten wir mehr oder weniger anfällig sind, liegt zu einem großen Teil in unserem Erbgut versteckt. Und dieses wiederum ist das Ergebnis einer kaum überschaubaren Verkettung von Ereignissen, menschlichen Wandlungen und Wanderungen – der Evolution. In diese lange Geschichte einzutauchen und sie anhand der Veränderungen in der DNA zu rekonstruieren hat sich ein umfassendes internationales Forschungsprojekt zum Ziel gemacht.

Grundlage dafür war die weltweit erste genetische Datenbank prähistorischer Menschen. Darin wurde Erbgut aus fossilen menschlichen Knochen und Zähnen, auch bezeichnet als "ancient DNA" oder aDNA, von fast 5.000 Menschen gesammelt, die von der Steinzeit bis ins Mittelalter in Europa und Asien lebten. Die älteste Probe ist etwa 34.000 Jahre alt. Durch immer bessere Gensequenzierungstechnologien ist es heute möglich, Erbgutreste aus immer älteren Funden zu entschlüsseln.

Aufgebaut wurde die Datenbank über fünf Jahre hinweg und in enger Zusammenarbeit mit Museen, in denen sich die Skelette befanden. Dahinter steht ein internationales Team rund um den dänischen Populationsgenetiker Eske Willerslev von den Universitäten Cambridge und Kopenhagen, Thomas Werge, Experte für biologische Psychiatrie von der Universität Kopenhagen, und Rasmus Nielsen, Computerwissenschafter an der kalifornischen Universität Berkeley.

Gene aus der Steppe

Um Veränderungen im Erbgut festzustellen, verglich das Team, an dem 175 Forschende beteiligt waren, urzeitliche DNA mit moderner DNA heutiger Europäerinnen und Europäer. Unter anderem wurden die Gendaten aus der britischen UK Biobank, in der das Erbgut von rund 400.000 Menschen gespeichert ist, herangezogen. Auf diese Weise gelangen neue Einblicke, wie sich der europäische Genpool zusammensetzt, auf welche Migrationsströme die verschiedenen Bevölkerungen zurückgehen und wie sich dadurch genetische Risikofaktoren für Krankheiten verbreiteten. Die Ergebnisse wurden Mittwoch in vier zusammenhängenden Studien im Fachjournal "Nature" publiziert.

Wie Willerslev schon kürzlich in einem Interview mit dem STANDARD berichtete, gehört zu den erstaunlichsten Erkenntnissen, dass die genetische Prädisposition, die eine Erkrankung an Multipler Sklerose (MS) wahrscheinlicher macht, auf die Bewohner der Pontischen Steppe zurückzuführen ist – einer Region, die Teile der heutigen Ukraine, Russlands und Kasachstans umfasst. Wie die Genanalysen zeigten, zog das Hirtenvolk der Jamnaja, das die Pontische Steppe bevölkerte, vor etwa 5.000 Jahren ins nordwestliche Europa, wo es relativ schnell die dort lebenden Bauern, die vor 10.000 Jahren aus dem Mittleren Osten gekommen waren, verdrängte. Die Jamnaja gelten als Vorfahren der heutigen Nordwesteuropäer.

Eingravierte Menschen mit DNA-Helix als Ornamente
Gene, die vor 5.000 Jahren von einem Hirtenvolk nach Europa kamen, erhöhen heute das Risiko, an Multipler Sklerose zu erkranken.
Sayostudio

Mit den Jamnaja kamen nicht nur Gene nach Europa, die hochgewachsene Körper begünstigen, sondern auch genetische Varianten, die mit einem erhöhten Risiko, an MS zu erkranken, einhergehen. Das Jamnaja-Erbgut ist noch heute in Nordeuropa weitaus verbreiteter als in Südeuropa, was eine Erklärung für das Nord-Süd-Gefälle für MS in Europa darstellen könnte. Derzeit erkranken in Nordwesteuropa doppelt so viele Menschen an MS wie in Südeuropa. Bisher sind etwa 230 Genvarianten bekannt, die das Risiko für eine MS-Erkrankung erhöhen.

Prähistorisches Immunsystem

Irritierend erscheint, dass das Forschungsteam zeigen konnte, dass einige der Risikovarianten über die Zeit häufiger wurden, also offenbar einer positiven Selektion in der Evolution unterlagen. "Es muss für das Jamnaja-Volk ein deutlicher Vorteil gewesen sein, diese MS-Risiko-Gene zu tragen, selbst nachdem sie in Europa angekommen waren", sagt Eske Willerslev. Vermutlich schützten ebendiese Gene die Jamnaja vor Infektionskrankheiten, die von den Tieren, mit denen sie eng zusammenlebten, auf Menschen überspringen konnten, vermuten die Forschenden. Die genetischen Veränderungen, die für eine effektive Immunantwort gegen Infektionskrankheiten verantwortlich sind, könnten auch zu einer überschießenden Reaktion des Immunsystems geführt haben, wie sie ebenfalls bei MS auftritt.

"Wir führen heute ein ganz anderes Leben als unsere Vorfahren, was Hygiene, Ernährung und Medizin betrifft. Zusammen mit unserer Evolutionsgeschichte könnte das bedeuten, dass wir anfälliger gegen bestimmte Krankheiten als unsere Vorfahren sind", erklärt Astrid Iversen, eine an der Studie beteiligte Immunologin von der Universität Oxford. Die Erkenntnisse über das prähistorische Immunsystem könnten jedenfalls helfen, die Entwicklung von MS und anderen Autoimmunerkrankungen besser zu verstehen und neue Behandlungsmethoden zu finden, sind Fachleute überzeugt.

Das genetische Erbe der Menschen, die in den vergangenen 10.000 Jahren die eurasische Region bevölkerten, beeinflusst aber auch noch andere Krankheitsrisiken und Eigenschaften, wie eine weitere Studie zeigt – und zwar je nachdem, wie groß der Anteil in der DNA einer Person ist, der auf einen der drei großen Migrationsströme zurückgeht. So tragen osteuropäische Menschen tendenziell das meiste Erbgut von Jägern und Sammlern in sich, die vor 40.000 Jahren die erste Einwanderungsgruppe aus Eurasien bildeten. Von den Jägern und Sammlern stammen auch jene Genvarianten, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, Alzheimer und Typ-2-Diabetes zu entwickeln. Wer aus Südeuropa stammt und somit einen vergleichsweise hohen Anteil an DNA aus bäuerlichen Gesellschaften aufweist, die vor 10.000 Jahren eingewandert waren, hat wiederum ein höheres Risiko, an einer bipolaren Störung zu erkranken.

Laktose- und Gemüsetoleranz

Weiters eröffneten die aDNA-Analysen, dass Laktosetoleranz, also die Fähigkeit, Milchzucker in Milchprodukten als Erwachsene zu verdauen, vor etwa 6.000 Jahren in Europa auftauchte. Wenig später, vor rund 5.900 Jahren, schrieb sich die Fähigkeit, Gemüse besser zu vertragen, also kurzkettige in langkettige Fettsäuren umzuwandeln, in das Genom der Europäerinnen und Europäer ein.

In einem weiteren in "Nature" publizierten Paper zeigen die Forschenden, dass die genetischen Unterschiede in vergangenen europäischen Populationen viel größer waren als bisher gedacht, während die heute lebenden Menschen in Europa genetisch gesehen sehr eng miteinander verwandt sind. Die vierte Studie rekonstruiert am Beispiel von Dänemark, wie zuerst die Bauern die Jäger und Sammler und dann die Jamnaja die Bauern nahezu komplett verdrängten – und somit den dänischen Genpool komplett auf den Kopf stellten.

Puzzle aus dem Geschirrspüler

Hinter all den Erkenntnissen steckt ein enormes Datenvolumen. Schließlich mussten zum Teil stark beschädigte DNA-Fragmente an die richtigen Stellen im menschlichen Genom eingefügt und verglichen und von den Genresten von Mikroorganismen unterschieden werden. "Stellen Sie sich ein Puzzle aus Millionen von Teilen vor, das mit den Teilen aus vier anderen unvollständigen Puzzles vermischt ist und das eine Stunde in einem Geschirrspüler war. Es danach zusammenzusetzen ist keine leichte Aufgabe", beschreibt Rasmus Nielsen die Herausforderung.

Das Datenset soll nun helfen, mehr Erkenntnisse über genetische Marker von neurogenerativen und psychiatrischen Krankheiten wie Parkinson, Autismus, ADHS, Schizophrenie und Depressionen zu finden und damit deren Entstehung und Evolution auf die Schliche zu kommen. (Karin Krichmayr, 10.1.2024)