Neurorechte, Gehirn-Computer-Schnittstellen
Sogenannte Gehirn-Computer-Schnittstellen helfen heute schon Menschen dabei, wieder zu kommunizieren oder Prothesen zu bewegen. Wie hier Oswald Reedus, der an Schlaganfällen leidet, in seinem Haus in Texas, USA.
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Mithilfe eines Bohrers und eines Fräsers öffnen die Ärztinnen und Ärzte Rita Leggetts Schädel. Sie setzen mehrere Elektrodenimplantate ein und ein kleines Gerät, das die Gehirnaktivität von Leggett messen und die Daten an ein externes Gerät senden soll, wo sie von einem Algorithmus ausgewertet werden.

Seit dem Alter von drei Jahren leidet Leggett an chronischer Epilepsie. Bisherige Behandlungen schlagen nicht an, mit 49 beschließt die Australierin, als eine der Ersten ein neues Gehirnimplantat zu testen. Jedes Mal, wenn es in ihrem Gehirn Anzeichen für einen epileptischen Anfall gibt, zeigt ein Gerät Leggett eine Warnung an. Dadurch kann sie rechtzeitig Medikamente nehmen, bevor es zu einem Anfall kommt.

"Das Gerät hat mir neues Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl gegeben", sagt Leggett ein paar Jahre später zu Wissenschafterinnen und Wissenschaftern. Während Leggett zuvor durchschnittlich drei epileptische Anfälle im Monat erlebte, hatte sie nach der Implantation keine Anfälle mehr. Sie sei "eins geworden" mit dem Gerät, habe zum ersten Mal das Gefühl, Kontrolle über ihr Leben und ihren Alltag zu haben und wieder alles tun zu können.

"Zwangsexplantation"

Doch dieses Gefühl währte nicht lange. Zwei Jahre nach dem chirurgischen Eingriff ging das Unternehmen Neurovista, das die Implantate entwickelt hatte, pleite. Da niemand mehr zur Verfügung stand, Wartungen an den Implantaten durchzuführen, forderte man die Teilnehmenden der experimentellen Studie dazu auf, das Implantat wieder entfernen zu lassen. Leggett versuchte, mit dem Unternehmen zu verhandeln, um das Implantat behalten zu dürfen. Schließlich musste sie es aber dennoch herausnehmen lassen.

"Sie haben einen Teil von mir genommen, auf den ich mich verlassen konnte", sagt Leggett. Sie habe sich seither nie mehr wieder so selbstbewusst, sicher und offen gefühlt.

"Wenn eine Person derart mit einem Gerät verschmilzt, bedeutet eine solche Zwangsexplantation eine starke Veränderung der Identität einer Person", sagt Marcello Ienca, Professor für Ethik der KI und Neurowissenschaften an der Technischen Universität München und Co-Autor der Studie, für die Leggett zu ihrem Fall befragt wurde. Mitunter könne es sich bei der Zwangsexplantation des Implantats um einen Verstoß gegen die Menschenrechte handeln.

Direkt auf Gehirnaktivität zugreifen

Seit vielen Jahren beschäftigt sich Ienca mit der Frage, welche Auswirkungen Neurotechnologien auf Menschen und Gesellschaften haben – wie sich die Chancen der Technologie nutzen und deren Risiken minimieren lassen, und ob es bald eigene Recht braucht, die unsere Gedanken vor Missbrauch schützen.

"Angriffe auf unseren Geist und unser Gehirn gibt es schon lange", sagt Ienca. Etwa durch soziale Medien, die versuchen, auf die menschliche Aufmerksamkeit großen Einfluss zu nehmen. Allerdings passiere diese Beeinflussung nur indirekt – also nur über den Inhalt und die Form der Information, die Menschen dann erst mit ihren Sinnen wahrnehmen. Mithilfe moderner Neurotechnologie wäre es jedoch möglich, ganz direkt auf die Gehirnaktivität eines Menschen zuzugreifen und diese zu beeinflussen. "Das kann eine viel größere Auswirkung haben", sagt Ienca.

Prothesen steuern

Das betrifft beispielsweise sogenannte Gehirn-Computer-Schnittstellen. Dabei wird versucht, eine Verbindung zwischen einem Computer und einem Gehirn herzustellen, um die Hirnaktivität aufzuzeichnen und bei Bedarf zu beeinflussen. Bisher soll das vor allem jenen Menschen helfen, die durch Erkrankungen oder Unfälle an körperlichen oder geistigen Problemen leiden.

Mithilfe von Gehirn-Computer-Schnittstellen können Menschen mit Behinderung beispielsweise über Nervenimpulse Prothesen steuern. Menschen, die an dem sogenannten Locked-in-Syndrom leiden, bei dem sie die zum Sprechen benötigte Muskulatur nicht bewegen können, können mithilfe der Technologie Wörter an ein Gerät übermitteln. Der Bedarf für derartige Verbesserungen ist durchaus gegeben. Weltweit leidet fast ein Viertel aller Menschen an einer neurologischen oder psychischen Störung.

Technische Erweiterung des Menschen

Allerdings sind der Fantasie bei diesem Thema kaum Grenzen gesetzt. Könnten neuronale Eingriffe eines Tages beispielsweise auch die Aufmerksamkeit und Konzentration gesunder Menschen um ein Vielfaches verbessern? Können Menschen damit eines Tages gezielt das eigene Schlafverhalten, den Appetit oder auch sexuelle Neigungen beeinflussen? Böten neuronale Eingriffe im Gericht künftig einen Blick in den Kopf des Angeklagten, um mögliche Falschaussagen zu entlarven?

Schon heute werben viele Hersteller damit, mit bestimmten Geräten auch Depressionen, Angststörungen und Aufmerksamkeitsschwächen lindern zu können. Das von Elon Musk gegründete Neurotechnologie-Unternehmen Neuralink strebt gar eine dauerhafte technische Erweiterung des Menschen durch Gehirnimplantate an, durch die auch gesunde Menschen ihre Aufmerksamkeit und Wahrnehmungsfähigkeit verbessern sollen.

Bullshit-Technologie

"Es gibt mittlerweile schon extrem viel Bullshit-Technologie am Markt, die wenig bis keine wissenschaftliche Grundlage hat", sagt Philipp Kellmeyer, Professor für verantwortliche KI und digitale Gesundheitsforschung an der Universität Mannheim und Neurologe am Universitätsklinikum Freiburg in Deutschland. Da viele der Geräte nicht als medizinische, sondern lediglich als Lifestyle-Geräte verkauft werden, fehle es häufig an Regulierung und genauer Überprüfung. "Unternehmen machen Menschen falsche Versprechen und verkaufen ihnen Dinge, die entweder schwachsinnig oder sogar gefährlich sind", sagt Kellmeyer.

An die Spitze dieser Entwicklung treibe es Neuralink. Zuletzt hatte das Unternehmen Versuche seiner Technologie am Menschen vorangetrieben, die von der US-Behörde FDA bewilligt wurden. "Eine Interpretation davon könnte sein, dass das Unternehmen mögliche klinische Studien nicht in erster Linie zum Patientenwohl betreibt, sondern vor allem, um die eigenen, von vielen Experten als fragwürdig erachteten Unternehmensziele voranzutreiben", sagt Kellmeyer. Verantwortungsvolle unternehmerische Forschungsethik sehe jedenfalls anders aus.

Gehirn-Computer-Schnittstellen
Viele Unternehmer, wie hier Seung Wan Kang, Gründer von iMedisync, versprechen Menschen Geräte, mit denen sie ihre Gehirnaktivität auch daheim messen sollen. Die Ergebnisse der Scans sollen sie dann im Anschluss mit Ärztinnen und Ärzten besprechen können.
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Keine Gedanken lesen

Fakt ist: Noch ist Neurotechnologie meilenweit davon entfernt, Gedanken des Menschen lesen zu können – sofern das überhaupt möglich sein wird, sagt Kellmeyer. Gehirn-Computer-Schnittstellen seien derzeit noch sehr störanfällig, viele der Signale werden vom Schädel des Menschen gefiltert oder von Bewegungen beeinträchtigt. Gute Aussagen über die Hirnaktivität eines Menschen könne man bisher meist nur unter idealisierten Bedingungen im Forschungslabor treffen.

Vor allem abstrakte Gedanken und Ideen von Menschen könne bisher keine Technologie herauslesen. Bei bisherigen Gehirn-Computer-Schnittstellen, die etwa für Prothesen zum Einsatz kommen, lerne die KI lediglich, welche Veränderung im Gehirn mit welcher Aktivität verbunden werden soll. "Sie versteht aber nicht, welche Information hinter diesen Signalen steckt."

Dennoch sind nicht nur die Gehirnmessungen, sondern auch die künstliche Intelligenz, die diese Daten analysiert, in den vergangenen Jahren deutlich besser geworden. Anstatt wie früher Gehirnmessungen allein von Menschen auszuwerten, lernen Algorithmen bestimmte Muster aus den Gehirnscans immer schneller und genauer zu deuten. "Studien haben gezeigt, dass solche KI-Modelle allein anhand von Gehirnmessungen erkennen können, an welche Wörter Probandinnen und Probanden gerade gedacht haben und welche Bilder sie im Kopf hatten", sagt Ienca.

Gefahr für Menschenrechte

Das Problem: Was passiert, wenn die Technologie in den kommenden Jahren tatsächlich große Innovationssprünge macht? Wenn Unternehmen oder Staaten in Zukunft Gehirndaten von Menschen gezielt manipulieren oder anderweitig missbrauchen, Menschen gar zur Nutzung bestimmter Implantate zwingen, um bestimmte Tätigkeiten zu kontrollieren?

Wissenschafter wie Ienca sehen durch Neurotechnologien potenziell mehrere Menschenrechte bedroht: etwa das Recht auf Autonomie, wenn Menschen von anderen Menschen durch Neurotechnologien beeinflusst werden. Oder das Recht auf psychologische Kontinuität, also das Recht, die eigene Identität wahren zu können – wie im Falle der Australierin Rita Leggett.

Vieles im Unterbewusstsein

Aber auch das Recht auf Privatsphäre sei bedroht, beispielsweise wenn Gehirnaktivitäten durch Implantate und digitale Technologien an die Öffentlichkeit gelangen. "Dieses Recht ist besonders schwer zu schützen, weil sich viele Gehirnprozesse im Unterbewusstsein abspielen", sagt Ienca. Es handle sich also um Daten, die wir nicht intentional steuern können.

Nicht zuletzt besteht das Risiko, dass durch Neurotechnologien die geistige Sphäre eines Menschen verletzt wird – ähnlich wie bei einer Körperverletzung. Denn sobald unsere Gehirne mit Computern vernetzt sind, sind sie auch anfällig für Cyberangriffe. Wer schützt uns davor, dass unser Gehirn dann nicht gehackt wird?

Menschenrechte erweitern

Um diese Rechte auch in Zukunft zu schützen, müssen bestehende Menschenrechte möglicherweise in ihrem Umfang und in ihrer Definition erweitert werden, sagt Ienca. Beispielsweise könnten diese "Neurorechte" jedem Menschen das Recht auf geistige Selbstbestimmung, geistige Privatsphäre und psychische Kontinuität garantieren.

Tatsächlich haben einige Staaten und Regierungen bereits begonnen, sich auch Neurorechten zu widmen. In der EU-Grundrechtecharta ist das Recht auf geistige Unversehrtheit bereits festgeschrieben. Und auch das in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankerte Recht auf Gedankenfreiheit ließe sich laut Expertinnen und Experten auf den Bereich der Neurotechnologie auslegen.

Hirndaten schützen

Chile hat vor einigen Jahren das Recht auf geistige Unversehrtheit als grundlegendes Menschenrecht in der Verfassung definiert und ein Gesetz verabschiedet, das auch Hirndaten schützt. Und auch Spanien veröffentlichte vor ein paar Jahren eine Charta der digitalen Rechte, in der auch Neurorechte Erwähnung finden.

"Eine große Verantwortung liegt aber auch bei Unternehmen", sagt Ienca. Diese müssen verhindern, dass das, was Leggett passiert ist, noch einmal vorkommt. Hätte Neuravista das Hirnimplantat so entwickelt, dass es auch von anderen Unternehmen gewartet werden kann, hätte es Leggett möglicherweise weiter benutzen können. "Es könnte aber auch Versicherungen geben, die genau bei solchen Insolvenzen einspringen", sagt Ienca. Leider sei der Markt an Neurotechnologien derzeit noch sehr unreguliert.

Große Lücke

Auch Kellmeyer sieht darin im Moment das größere Problem. "Während viele ungeprüfte Geräte im Verbraucher-Bereich unterreguliert sind, sind potenziell wirklich hilfreiche medizinische Neurotechnologien überreguliert." Menschen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen hätten bisher kaum Zugang zu hilfreichen medizinischen Neurogeräten.

Verantwortungsvoll umgesetzt gäbe es für Gehirn-Computer-Schnittstellen jedenfalls viele Einsatzmöglichkeiten: Menschen könnten in der Industrie besser mit Robotern zusammenarbeiten und diese direkt über das eigene Gehirn steuern. Flugzeuge und Autos könnten rechtzeitig erkennen, wenn ein Pilot beziehungsweise Autofahrer kurz vor dem Einschlafen ist, und die Steuerung automatisch übernehmen. Viele neurologische Beschwerden könnten besser behandelt werden, sagt Kellmeyer. "Neurotechnologien könnten damit tatsächlich zu einem Gamechanger für Menschen mit neurologischen oder psychiatrischen Erkrankungen oder für Menschen mit Behinderung werden." (Jakob Pallinger, 14.1.2024)