Charakterdarsteller: "Die Sopranos" mit James Gandolfini (Vordergrund) als Mafiaboss Tony Soprano.
HBO/Sky

Tony Soprano sitzt mit schwarzem T-Shirt und skeptischem Blick im Warteraum und starrt auf eine Statue. Gefilmt wird er durch die Beine jenes Kunstwerks, das im Zimmer thront. Tonys Gesicht kommt immer näher. Als die Türe aufgeht, schaut Dr. Jennifer Melfi heraus und bittet ihn in ihr Behandlungszimmer. Er, der in der Abfallwirtschaft arbeite, könne nicht mit einer Psychiaterin über seine Probleme reden, sagt er, um es dann doch zu tun – und zwar jahrelang. Zwischen verklausuliert und explizit, über Morde bis hin zu den Banalitäten des Alltags.

The Sopranos First Scene
Manel Angrill Ayala

Perfektion in 86 Episoden

Tonys zweite "Familie", die Mafia, darf nichts von seinen Zusammenbrüchen erfahren. Wie soll ein Boss, der depressiv ist und zu einer Psychiaterin geht, mit der ihn später mehr verbinden sollte als nur seine Psyche, einen ganzen Clan leiten? Und nach nur zwei Serienminuten ist der Grundstein für ein Epos und einen Meilenstein der TV-Geschichte gelegt. Mit einer Kameraführung, die sich als symptomatisch für die Akribie erweisen sollte, die in die Produktion von "Die Sopranos" floss. Eine neue Ära der Qualitätsserien begann: Am 10. Jänner 1999, also vor 25 Jahren, sendete der US-Sender HBO die erste Folge der Serie. Sie sollte acht Jahre und sechs Staffeln mit insgesamt 86 Episoden dauern. Und sie wirkt bis heute nach.

Die erste Sequenz von "Die Sopranos" gibt die Richtung vor: Der von Panikattacken gepeinigte Mafiaboss (James Gandolfini), der zwischen Gewaltexzessen und Psychotherapie changiert. Auf der einen Seite ist er der skrupellose Capo, der den italoamerikanischen Mafiaclan der DiMeo-Familie in New Jersey führt, und auf der anderen Seite steht ein zerbrechlicher Familienmensch, dessen liebevolle Seiten sich immer wieder zeigen – etwa im Umgang mit seinen Kindern und manchmal mit seiner Frau. Und der eine kindliche Freude verspürt, wenn sich eine Entenfamilie in seinem Pool tummelt. Also ein Gauner, der auch den Dackelblick im Repertoire hat.

Mit Preisen überhäuft

"Die Sopranos" entstanden zu einer Zeit, als DVD-Player frisch auf den Markt kamen und Netflix noch eine reine Online-Videothek war. Von einem Serienboom konnte keine Rede sein. Der Kabelkanal Home Box Office (HBO) traute sich schließlich, die Produktion zu stemmen – zeitlich gesehen zwischen "Sex and the City" (1998) und "Six Feet Under" (2001). 21 Emmys und fünf Golden Globes zeugen von einem hochdekorierten Meisterwerk, das den Stoff, aus dem Mafiafilme wie "Der Pate" oder "Goodfellas" gestrickt sind, in die Serienwelt transformierte. Die Writers Guild of America wählte "Die Sopranos" auf Platz eins der 101 Best Written TV Series.

Ohne die "Sopranos" würde es Serien wie "The Wire" (2002 bis 2008) nicht geben, meinen TV-Expertinnen und -Experten. Die Serie habe den Boden für lange und komplexe Erzählstränge sowie fein austarierte Charaktere aufbereitet. In "The Wire" wird der Drogenhandel in der US-Stadt Baltimore über fünf Staffeln thematisiert.

Autobiografisches von David Chase

Dass es die "Sopranos" gibt, ist dem Autor und Regisseur David Chase zu verdanken. Der Italoamerikaner wuchs in New Jersey auf, wo die Serie auch angesiedelt ist. In seinen Drehbüchern finden sich zahlreiche autobiografische Elemente. Sie machen die Serie so authentisch. Chase, geboren 1945, hatte selbst mit Depressionen zu kämpfen – genauso wie mit seiner Mutter, die wohl als Vorbild für Tony Sopranos nervtötende Mama Livia fungierte, grandios dargestellt von Nancy Marchand. Die Schauspielerin starb leider bereits im Jahr 2000, weshalb sie nur in 26 Folgen dabei sein konnte.

Nancy Marchand als Tony Sopranos Mutter Livia und Dominic Chianese als Corrado Soprano Jr. bzw. Onkel Junior.
Grandios: Nancy Marchand als Tony Sopranos Mutter Livia und Dominic Chianese als Corrado Soprano Jr. bzw. Onkel Junior.
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Grandioses Ensemble

Überhaupt sind es die vielen fantastisch besetzten Haupt- und Nebenrollen, die die Serie zu einem Gesamtkunstwerk formen: von Edie Falco, Tony Sopranos Frau Carmela, über Lorraine Bracco als Psychiaterin Dr. Melfi bis zur Riege der Bilderbuch-Mafiosi, die von schlichten Gemütern wie Peter Paul Gualtieri, gespielt von Toni Sirico, und Salvatore "Big Pussy" Bonpensiero (Vincent Pastore) bis hin zu komplexere Charakteren wie Tonys Cousin Christopher Moltisanti (Michael Imperioli) und Corrado Soprano Jr. bzw. Onkel Junior (Dominic Chianese) reicht.

Ein besonderes Vergnügen bereiten auch Bobby "Bacala" Baccalieri (Steve Schirripa), der von Onkel Juniors Adjutant zu einem wichtigen Mitglied des Clans avanciert und Tony Sopranos Schwester heiratet, sowie Vito Spatafore (Joseph R. Gannascoli), dessen Homosexualität ihm schließlich zum Verhängnis wird. Würde man heute eine KI beauftragen, einen schräg-schrulligen Mafiaclan zu kreieren, würde sie wahrscheinlich genau solche Typen ausspucken.

Sil und das "Bada-Bing"

Aus dem Ensemble sticht neben Hauptdarsteller James Gandolfini, er verstarb bereits im Jahr 2013 im Alter von nur 51 Jahren, am ehesten noch Steven Van Zandt heraus. Er gab als Silvio Manfred Dante ("Sil") Tonys rechte Hand mit den hängenden Mundwinkeln und war als Eigentümer des Stripclubs "Bada-Bing" die Drehscheibe der Mafiageschäfte. Van Zandt wurde zunächst als Gitarrist in Bruce Springsteens E Street Band bekannt, ehe er bei den "Sopranos" auch als Schauspieler reüssierte. Nach dem Ende der Serie nahm er ab 2012 den Faden wieder auf und spielte in der norwegisch-amerikanischen Serie "Lilyhammer" einen Mafiaboss, der aufgrund eines Zeugenschutzprogramms in Norwegen landete.

Toni Sirico (links) spielte Pauli Gualtieri und Steven Van Zandt glänze als Sil.
Toni Sirico (links) spielte Pauli Gualtieri, und Steven Van Zandt glänzte als Sil.
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Brutalo-Szenen

Dass HBO Mastermind David Chase die künstlerische Freiheit ließ, die Serie nach seinen Vorstellungen mitsamt unzähligen nicht jugendfreien Brutalo-Szenen zu modellieren, ist dem Sender nicht hoch genug anzurechnen. Nur zweimal gab es Bedenken, darauf weist "Zeit Online" hin. Beim ersten Mal soll es um den Titel gegangen sein, der mit Operngesang assoziiert wurde, und beim zweiten Mal soll es es sich um eine denkwürdige Szene in der fünften Folge der ersten Staffel gedreht haben.

Tony ist mit seiner pubertierenden Tochter Meadow (Jamie-Lynn Sigler) in Maine unterwegs, um sich Colleges anzuschauen. Dabei entdeckt er Fabian "Febby" Petrulio, ein ehemaliges Mafiamitglied, das sich im Zeugenschutzprogramm des FBI befindet, weil es gegen die Familie Soprano ausgesagt hat. Tony spürt Petrulio auf und erdrosselt ihn brutal mit einem Kabel. Eine Szene, die unter die Haut geht. Und spätestens jetzt wird klar, dass Tony vom Ganoven mit zuweilen freundlichem Antlitz zum eiskalten Killer mutieren kann. Seine Tochter hatte ihn zuvor gefragt, ob er bei der Mafia arbeite.

Tony Kills Fabian Petrulio - The Sopranos HD
Tony Kills Fabian Petrulio, The Sopranos HD
TonySoprano

Stirbt Tony?

Von ähnlicher Intensität ist auch jene Szene in der finalen Staffel, als Tony nach einem schweren Autounfall seinen Cousin Christopher Moltisanti erstickt, weil dieser nach einem erfolgreichen Entzug wieder unter Drogen stand.

Tony Kills Christopher - The Sopranos HD
Tony Kills Christopher, The Sopranos HD
TonySoprano

Christophers Tod ist eine stellvertretende Szene für das ständige Wechselspiel der Gefühle, das Seriengeschichte schrieb. Sie endete mit einem würdigen Finale, das viele Fragen, aber nur wenige Wünsche offen ließ. Happy Birthday! (Oliver Mark, 16.1.2024)