Luftaufnahme der Donauinsel mit Alter und Neuer Donau.
Auf der Donauinsel ist man während des nach dieser benannten Fests nicht allein, aber auch dann gibt es dort genügend "dunkle Stellen" für Aussprachen.
APA / FLORIAN WIESER

Wien – Beim Reden kumman d'Leit zaum, verweist der Volksmund gerne auf die deeskalierende Wirkung des Gesprächs. Um eine "Aussprache" ging es auch am 15. Juni auf der Wiener Donauinsel. Dass dabei aber Deeskalation das Ziel war, glaubt Staatsanwältin Irene Jelinek im Prozess gegen Siraj A. eher nicht – schließlich postete der 23-jährige Angeklagte im Vorfeld: "Seid ihr echte Männer? Dann treffen wir uns, wo es keine Kameras gibt!" oder soll vor Ort gesagt haben: "Keine Sorgen, werde dich nicht ins Spital schicken, sondern nur deine Innereien herausreißen und den Hunden vorwerfen!" Nach der Zusammenkunft war der Angeklagte jedenfalls leicht und einer seiner Kontrahenten schwer verletzt. Die Anklägerin sieht einen Mordversuch durch A., der beruft sich vor dem Geschworenengericht unter Vorsitz von Stefan Apostol dagegen auf Notwehr.

Die Angelegenheit ist einigermaßen unübersichtlich. Fix scheint, dass der Streit sich ursprünglich um einen Mietrückstand gedreht hat. Der Angeklagte hatte zwei seiner Cousins ein Zimmer vermietet und war der Meinung, dass jeder von ihnen ihm 150 Euro schuldete. Die sahen das anders, nach einem ersten Treffen soll ein weiterer Cousin 100 Euro an A. gezahlt haben, was dem Angeklagten aber offenbar nicht gereicht hat.

So wurde schließlich ein weiterer Termin vereinbart. Der unbescholtene A. sagt, "Cousin Abdul" habe darauf gedrängt, die Sache auszusprechen. Der Cousin sagt, es war umgekehrt. Vereinbart wurde jedenfalls ein mitternächtliches Treffen auf der Donauinsel. Die nächste Seltsamkeit: "Cousin Abdul" behauptet, es sei als Einzelgespräch gedacht gewesen, im Endeffekt trafen sich dann aber zwei Dreiergruppen – von den sechs Syrern waren fünf miteinander verwandt. Offenbar ging jede Seite davon aus, dass die Sache eskalieren würde.

Treffen "an einer dunklen Stelle"

Seltsam ist bei dieser Erwartungshaltung dann aber das weitere Vorgehen. Die beiden Gruppen trafen sich nämlich zunächst in einem beleuchteten Bereich, beschlossen dann aber, "an eine dunkle Stelle" zu gehen. Dabei hatte der Angeklagte bereits sein Klappmesser gezogen, aber nicht einsatzbereit gemacht, behauptet er. Er habe Angst vor den anderen gehabt. Der später Schwerverletzte wiederum bekam von "Cousin Abdul" einen Ast, den dieser auf dem Boden fand, in die Hand gedrückt. Da er sich vor dem Messer fürchtete, wie er als Zeuge sagt.

Wann A. das Messer schließlich ausklappte, will niemand gesehen haben, der Angeklagte selbst behauptet, erst, als der Ast ins Spiel kam. Im Verlauf der Auseinandersetzung fiel A. einmal zu Boden, am Ende hätte auch der Schwerverletzte ein Messer in der Hand gehabt und ihm damit einen Schnitt auf dem Rücken zugefügt, behauptet der Angeklagte. Diese zweite Waffe will wiederum sonst niemand gesehen haben, allerdings soll A. und einer der Cousins von seiner Gruppe sie danach am Tatort geborgen haben. Mit einem Plastiksack, um Fingerabdrücke zu vermeiden, beteuert der Angeklagte. Tatsächlich ging er am nächsten Tag zur Polizei, zeigte an, dass er von den anderen attackiert worden war, und gab das Klappmesser ab, auf dem das Blut des Schwerverletzten war, sonst aber keine weitere DNA. Das eigene Klappmesser habe er auf dem Rückweg in die Donau geschmissen, erzählt der Angeklagte.

Vorsitzender Apostol hält dem von Andreas Reichenbach verteidigten A. Widersprüche zu seiner ersten Aussage bei der Polizei vor, die er entweder mit Übersetzungsfehlern oder angstbedingten Lügen erklärt. Wie sich bei den Aussagen der Zeugen, die A. kurz davor angezeigt hatten, herausstellt, sind diese aber auch nicht frei von Widersprüchen. An die "Hundefutter-Drohung" kann sich zunächst niemand mehr erinnern, "Cousin Abdul" erklärt dann, er kenne den Angeklagten schon lange und hätte das nicht ernst genommen. "Er war damals ein wenig außer sich, da seine Familienzusammenführung abgelehnt wurde", beschreibt er die Stimmung. Auf die Frage eines Geschworenen, warum die "Aussprache" unbedingt um Mitternacht an einem dunklen Ort stattfinden musste, erhält er von "Cousin Abdul" keine befriedigende Antwort.

Versöhnungswilliger Schwerverletzter

Überraschenderweise behaupten auch alle Zeugen, das zur Polizei gebrachte Klappmesser sei nicht die Tatwaffe gewesen. Selbst das Opfer, das laut dem gerichtsmedizinischen Sachverständigen Christian Reiter beidseitig insgesamt fünf Stichwunden im Schulter- und Nackenbereich und im Arm erlitt, will sich nur an einen Stich erinnern können. Nur um wenige Millimeter entging er einem Lungenstich, eine durchtrennte Vene im Bizeps kostete ihn viel Blut. Dennoch lässt er am Ende seiner Einvernahme dem Gericht übersetzen: "Wir sind alle verwandt. Wenn es in meiner Macht liegen würde, würde ich das Ganze gerne zurückziehen", meint er. "Das tut es nicht, es liegt nicht in Ihrer Macht. Wenn jemand versucht, einen anderen zu töten, muss das abgehandelt werden", bescheidet der Vorsitzende ihm.

Wie der kleine Schnitt am Rücken des Angeklagten zustande gekommen ist, kann Gerichtsmediziner Reiter nicht eindeutig erklären. Ein "scheidendes, scharfes Objekt" müsse die Verletzung verursacht haben – ob das aber ein Messer war oder er sich an einer Keramik- oder Glasscherbe schnitt, als er zu Boden fiel, lasse sich nicht feststellen.

Auch die Laienrichter und -richterinnen sind sich nicht sicher, wem sie mehr glauben sollen – brauchen aber nicht sehr lange für ein Urteil. Den von Staatsanwältin Jelinek angeklagten Mordversuch verneinen sie mit fünf zu drei Stimmen. Einstimmig entscheiden sie sich dagegen für das Delikt der schweren Körperverletzung. Bei einem Strafrahmen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren wird A. zu drei Jahren unbedingter Haft verurteilt. Während Reichenbach und sein Mandant die Entscheidung nach kurzer Beratung akzeptieren, gibt die Anklägerin keine Erklärung ab, das Urteil ist daher nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 11.1.2024)