Die Sonne geht über zerstörten Häusern im Gazastreifen auf.
Im zerstörten Gazastreifen ist kein Ende des Kriegsgrauens in Sicht.
AFP

100 Tage tobt der Krieg zwischen Israel und der Hamas bereits – mit dramatischen Folgen für die Zivilbevölkerung. Nachdem beim Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober rund 1.200 Israelis getötet und mehr als 240 in den Gazastreifen verschleppt wurden, geht das israelische Militär weiterhin mit voller Härte gegen die Hamas vor.

Israel hatte das Küstengebiet zunächst komplett abgeriegelt und mit einer Luft-, See- und dann auch Bodenoffensive begonnen – mit dem Ziel, die Hamas zu zerstören und alle Geiseln zu befreien. Drei Monate Krieg, eine kurze Feuerpause und einen Geiseldeal später ist das noch nicht gelungen: 132 der verschleppten Geiseln sind noch immer in den Händen der Hamas, einige sollen nicht mehr am Leben sein. Nun hat Israel, das 170 gefallene Soldaten meldet, die "dritte Phase" des Krieges eingeläutet, in der man gezielter vorgehen will. Beobachter sehen das als Antwort auf die Kritik an Israels harter Vorgehensweise. Immerhin sind Tod, Vertreibung und Zerstörung im Küstenstreifen seit Beginn der israelischen Militäroffensive allgegenwärtig.

"Gaza ist zu einem Ort des Todes und der Verzweiflung geworden", sagte Martin Griffiths, Chef des UN-Nothilfebüros Ocha, zuletzt. Das schwer zerbombte Gebiet sei "unbewohnbar". CNN-Journalistin Clarissa Ward sprach nach einem Besuch in einem von den Vereinigten Arabischen Emiraten im Gazastreifen betriebenen Feldlazarett von einem "kurzen Blick durch ein Fenster in die Hölle": Sie beschrieb dabei den Anblick von Kindern mit abgerissenen Gliedmaßen und von einem kleinen Bub mit entstelltem Gesicht, den Israels Bombardements zum Waisen gemacht haben.

Seit Kriegsbeginn sind nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums in Gaza mehr als 23.000 Menschen getötet worden, tausende weitere werden unter den Trümmern vermisst. Die Zahlen der Behörde unterscheiden nicht zwischen Zivilisten und Kämpfern und lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Fachleute gehen aber eher von einer Unter- als einer Überschätzung der Opferzahlen aus, weil die Angaben nur Menschen inkludieren, die Krankenhäuser bzw. Leichenhallen erreichen.

Viele Spitäler außer Betrieb

Doch von den einst 36 Spitälern im Gazastreifen sind mittlerweile 21 außer Betrieb. Vor allem aus dem Norden, aber mittlerweile auch aus dem Zentrum des Gazastreifens sind hunderttausende Menschen geflohen. Die UN sprechen von insgesamt mehr als 85 Prozent der rund 2,3 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, die durch den Krieg bereits vertrieben wurden. In und um die Stadt Rafah an der Grenze zu Ägypten leben mittlerweile rund eine Million Menschen – vor dem Krieg waren es etwa 280.000.

Luftaufnahme von Flüchtlingszelten bei Rafah.
Ein Flüchtlingslager im Süden des Gazastreifens.”
AFP/-

Israel betont, dass die Hamas Zivilisten als menschliche Schutzschilde benützt und dass die israelische Armee versuche, zivile Opfer zu vermeiden. Zivilisten seien in drei Monaten Krieg nach Angaben von Regierungssprecher Eylon Levy mit sieben Millionen Flugblättern, 70.000 Anrufen und 28 Millionen Text- und Sprachnachrichten vor Angriffen gewarnt worden. Anrainer in Gaza berichteten jedoch, Israel habe immer wieder auch als sicher deklarierte Gegenden angegriffen. Die Angaben von Israels Armee sollen teils auch widersprüchlich oder verwirrend sein oder mangels Stroms und Internets in Gaza nur schwer abrufbar.

Hohe Todesrate

Der Hilfsorganisation Oxfam zufolge hat der Krieg im Gazastreifen mit durchschnittlich 250 getöteten Palästinensern pro Tag die Zahl der täglichen Todesopfer aller anderen großen Konflikte der vergangenen Jahre deutlich übertroffen. Weitere Schätzungen gehen von 160 zivilen Toten pro Tag aus. Anhand öffentlich zugänglicher Daten kam Oxfam zu dem Schluss, dass die Zahl der täglichen Todesopfer im Gazastreifen weitaus höher ist als etwa beim Krieg in Syrien (96,5 Tote pro Tag), im Sudan (51,6), im Irak (50,8) und in der Ukraine (43,9). Auch wenn bei der Interpretation der Daten wegen der unterschiedlichen Zeiträume, in denen aufgezeichnet wurde, Vorsicht angebracht ist, bleibt der Blutzoll in Gaza enorm.

Emily Tripp, Leiterin der unabhängigen britischen Organisation Airwars, die seit 2014 Angriffe gegen Zivilisten in Konfliktgebieten untersucht, sprach schon im Dezember vom intensivsten Feldzug, den Airwars je untersucht habe. Die Opferzahlen stiegen in Gaza in einem "Maßstab, den wir wirklich noch nicht gesehen haben", sagte Tripp. Das Maß der Ziviltoten pro Angriff war in Gaza im Dezember etwa 13-mal höher als beim Kampf in Raqqa 2017 gegen die Terrormiliz Islamischer Staat, bei dem die USA für 1.600 Ziviltote beziehungsweise im Schnitt 20 Ziviltote pro Tag scharf kritisiert wurden.

70 Prozent der Wohneinheiten und 50 Prozent aller Gebäude im Gazastreifen sind zerstört oder beschädigt, wie das "Wall Street Journal" Ende Dezember berichtete. Betroffen sind UN-Schätzungen zufolge eine halbe Million Palästinenserinnen und Palästinenser, die kein Zuhause mehr haben, in das sie zurückkehren können. Eine Recherche der "Washington Post" ergab, dass Israel in den ersten sieben Wochen des Krieges mehr Gebäude im Gazastreifen zerstört hat als syrische Regimekräfte in Aleppo in drei Jahren oder die US-geführte Koalition gegen die IS-Terrormiliz im irakischen Mossul und Raqqa in einem Jahr.

900-Kilogramm-Bomben

Marc Garlasco, der die niederländische Zivilschutz-Organisation Pax in Militärfragen berät und zuvor im Pentagon tätig war, sagte, in seiner 20 Jahre langen Karriere habe er eine solche Zerstörung in so hohem Tempo noch nicht erlebt. Ein Grund sei der Einsatz von 900-Kilogramm-Bomben, der zweitgrößten Bombe im israelischen Arsenal, die eine ganze Wohnhausanlage zum Einsturz bringen könne.

Das US-geführte Bündnis zum Kampf gegen den IS hatte im Irak und in Syrien gezögert, 220 Kilogramm schwere Bomben in weniger dicht besiedelten Gegenden abzuwerfen. In Gaza fielen dagegen nach Untersuchungen der "New York Times" 900-Kilo-Bomben etwa auf das dicht besiedelte Flüchtlingsviertel Jabalia. Das hat auch Südafrika in seiner Völkermordklage gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof als Argument ausgeführt.

Fast die Hälfte der abgeworfenen Munition seien zudem "dumme", also nicht präzisionsgelenkte Bomben, berichtete CNN unter Berufung auf US-Geheimdienstinformationen. Im weiterhin abgeriegelten Gazastreifen, den bisher nur rund 1.100 Menschen (mit ausländischem Pass oder dringendem medizinischem Bedarf) verlassen konnten, gibt es zudem wenig bis gar keine Fluchtmöglichkeiten.

Drohende Hungersnot

Hilfsorganisation warnen schon seit Wochen vor einer Hungersnot im Gazastreifen. Nach Angaben des World Food Programme (WFP) sind etwa 700.000 Menschen auf der Welt von akutem Hunger betroffen, davon 577.000 im Gazastreifen. Den UN zufolge leiden mehr als 90 Prozent der Bevölkerung dort unter "akuter Ernährungsunsicherheit" und "praktisch alle Haushalte lassen jeden Tag Mahlzeiten aus".

Zu Beginn des Krieges wurde zwei Wochen lang überhaupt keine humanitäre Hilfe – einschließlich Lebensmittel – nach Gaza zugelassen. UN-Angaben zufolge hat die Menge an Hilfsgütern allmählich zugenommen: Im Oktober kamen nach der Totalblockade täglich rund 20 Lastwagen, im November 85 und im Dezember 104.

Das ist jedoch immer noch weit weniger als die 500 Lastwagen pro Tag vor Ausbruch des jüngsten Krieges – die auch damals schon nicht den Bedarf der gesamten Bevölkerung im Gazastreifen gedeckt hatten. Zudem konnten im Norden in den ersten elf Tagen im Jänner nach Angaben des UN-Nothilfebüros Ocha nur fünf von 24 geplanten humanitären Lieferungen durchgeführt werden, die den Menschen neben Nahrungsmitteln auch Medikamente, Trinkwasser und andere lebenswichtige Güter liefern sollten. Die israelischen Behörden hätten mehrere geplante Lieferungen verweigert oder Konvois seien zu lange an den israelischen Kontrollstellen aufgehalten worden, hieß es von Ocha. Die Krankenhäuser im Norden hätten deshalb nicht genügend Material zur Versorgung von Kranken und Verletzten. "Jeder Tag, an dem die Hilfe ausbleibt", warnt Ocha, "führt zu Todesfällen und bedeutet für Hunderttausende von Menschen im nördlichen Gazastreifen Leid." (Noura Maan, Flora Mory, 14.1.2024)