Straßenschilder
"Wir dürfen den Feinden der Demokratie nicht den Begriff der Gemeinschaft überlassen, sondern sollten ihm – analog zur Neudeutung von Heimat – eine demokratische Bedeutung verleihen", postuliert Wolfgang Müller-Funk.
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Beginnen wir mit dem unverwüstlichen theoretischen Problemkrimi von Robert Musil (Der Mann ohne Eigenschaften), der literarische Unbestechlichkeit mit kühlem psychologischem und sozialem Blick verschränkt. In dem einschlägigen Kapitel acht spricht der Erzähler davon, dass die "Abneigung jedes Menschen gegen die Bestrebungen jedes andern Menschen" in der Habsburgermonarchie "bis zum Gemeinschaftsgefühl gesteigert" war. In dieser Paradoxie, dass wider alle Intention das Trennende zum Gemeinsamen wird, wird im Roman die Modernität Kakaniens, eine innere Verfasstheit verortet, die das Lebensgefühl des Individuums, einzelner Gruppen und ganzer Völker umfasst.

Welt als Kompensat

Das Bestechende und bis heute Aktuelle dieses Befunds besteht darin, dass Musil den Nationalismus als einen kollektiven und konformistischen Individualismus begreift, der all den anderen säkularen Identitätsbildungen verblüffend ähnlich ist: Sacro egoismo in der Lebenswelt und sacro egoismo in den symbolischen Räumen einer in jeder Hinsicht abstrakten komplexen Welt, die auf eine überschaubare Gemeinschaft heruntergebrochen wird.

Weit davon, rückständig zu sein, ist die nationale Gemeinschaft keineswegs eine Welt von Gestern, sondern vielmehr ein Kompensat, das unsere existenzielle Heimat- und Charakterlosigkeit als vereinsamte Individuen verschleiert. Insofern steckt im Nationalismus ein ideologisches Moment: die Illusion, in einer homogenen Gemeinschaft zu leben. Nationalsozialismus und Faschismus haben von ihr ausgiebig Gebrauch gemacht. Sie markieren den Umschlag von der Sehnsucht nach Gemeinsamkeit in die Gemeinheit. Kein Autokrat kommt ohne die systematische Manipulation aus, eine heterogene Gesellschaft egoistischer Individuen als eingeschworene Gemeinschaft zu projizieren.

Individualität und Identität

Musils Roman enthält die dramatische Botschaft, dass moderne Gesellschaften von Menschen bevölkert werden, die ihre prächtige, oft als Freiheit (miss)verstandene Individualität und Identität durch Abgrenzung und Feindseligkeit von beziehungsweise gegenüber den Anderen stiften. Wie sich an der Corona-Pandemie zeigen lässt, avanciert die Verweigerung solidarischen Verhaltens zum Ausweis von Widerständigkeit und Freiheit gegen Staat und Gesellschaft. Ähnliches lässt sich von der Migrationsfrage, der ökologischen Agenda und dem Krieg in der Ukraine sagen. Davon speist sich nicht nur in Österreich ein gegen die Eliten gerichtetes Ressentiment.

Wir leben (noch immer) in einem Sozialstaat, der den Anspruch erhebt, Solidarität mit sozial Schwächeren und Benachteiligten zu üben – eine Errungenschaft, die unbedingt erhaltenswert ist, auch wenn man sich fragen kann, ob sie immer treffsicher ist. Staatliche Fürsorge verläuft freilich in eine Richtung, sie ist nicht reziprok, und sie folgt auch nicht jenem Prinzip, ohne das eine soziale Gruppe keine Dauerhaftigkeit erlangen kann: wechselseitige Anerkennung aller Beteiligten.

Ernstzunehmende Debatte

Man kann sich für einen kurzen Augenblick eine Parlamentsdebatte vorstellen, in der die politischen Kontrahenten ruhig und respektvoll ihre konkurrierenden Lösungsvorschläge zu einem bestimmten Problem einander vorstellen und miteinander diskutieren, so als wäre das politische Gegenüber nicht ein verächtlicher Gegner, sondern ein ernstzunehmender Konkurrent – wie beim Sport oder zuweilen in der Kultur.

1995 legte der bulgarisch-französische Literatur- und Kulturtheoretiker Tzvetan Todorov ein Buch mit dem eher bedächtigen Titel La vie commune. Essai d’anthropologie générale vor, das seinerzeit weithin unbeachtet geblieben ist. 2015 wurde das Buch Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie wieder auf Deutsch aufgelegt. Nun ist die Aktualität des Buches mit Händen zu greifen.

Die soziale Dimension

Anders als Musil, der den Verlust an Gemeinschaftlichkeit in den Nationalitätenkonflikten, den ideologischen Brüchen und einem geistigen Vakuum ortet, lässt Todorov, der sich durch seine strukturalistisch orientierten Forschungen auf dem Gebiet der fantastischen Literatur einen Namen gemacht hat, die europäische Geistesgeschichte Revue passieren. Sein Essay kommt, ganz im Gegensatz zu der kreisenden Vorsicht, die dem essayistischen Format innewohnt, zu einer so unmissverständlichen wie unverblümten Beurteilung der bedeutenden Strömungen der europäischen Moderne: In ihren Definitionen des Humanen wird "die soziale Dimension, das Faktum des Zusammenlebens (...) im Allgemeinen nicht als für den Menschen notwendig angesehen."

Todorov spricht von einer "asozialen Vision", in der nur die Abgrenzung des Menschen ein authentisches und wahres Leben verbürgt. Der Gesellschaft bedürfe der Mensch schon bei den französischen Moralisten nicht wirklich, es ist nur ein Ausweis von Schwäche, wenn er ihrer bedarf. Nur auf Selbstgenügsamkeit und Autarkie kommt es an. In einer anderen Version, die die Feier des einsamen Individuums vermeidet, das des Anderen und damit auch der Gesellschaft nicht bedarf, wird der Mensch als ein potenziell gewalttätiges Wesen beschrieben, das man vor sich selbst und den anderen schützen muss.

Solche Überlegungen stehen im Mittelpunkt der Philosophie von Thomas Hobbes, deren Einflüsse sich noch in Sigmund Freuds spätem Werk Das Unbehagen in der Kultur ausfindig machen lassen. Staat, Gesellschaft oder Kultur setzen dem Menschen Grenzen, schützen den Homo sapiens vor der ihm eigenen Gewalttätigkeit und todbringender Aggression. Damit bescheren sie bei Thomas Hobbes wie bei Freud dem Menschen Sicherheit.

Krieger und Mütter

Aber auch in dieser theoretischen Traditionslinie stehen Individuum und Gesellschaft einander feindselig gegenüber. Im Falle Hegels und später Sartres steht der Mensch dem Anderen in einem exklusiven Kampf auf Leben und Tod gegenüber. Der Andere, Repräsentant der Gesellschaft, ist die Hölle, heißt es in einem berühmten Verdikt Sartres.

Die modernen Individuen sind zumeist als Männer gedacht, aber diese Art von Lonesome-Rider-Attitüde kann auch weiblich daherkommen. In seinem witzigen und zugleich erhellenden Buch Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne entwirft der Philosoph Josef Früchtleine Typenreihe des modernen individualistischen Subjekts, bei der er drei deutschen Denktraditionen jeweils einen filmischen Archetyp gegenüberstellt, dem Idealismus Hegels den solitären Westernhelden, der Romantik den Verbrecher, dem Zynismus Nietzsches den Übermenschen in Gestalt von Supermann und Cyborg.

Der erste Mensch, dem wir in unserem irdischen Dasein begegnen, ist indes nicht der Krieger, nicht der abgründige Verbrecher und auch nicht Supermann, Typen, die durch die Unterwerfung, Lebensverachtung und den Tod der Anderen Selbstwert lukrieren, sondern, wie Todorov darlegt, es ist, ganz unsentimental gesprochen, ein weibliches Wesen, das uns Liebe, Geborgenheit und Anerkennung schenkt: Die Mutter.

"Eine mögliche Lösung komplexer gesellschaftlicher Probleme der Moderne besteht nicht im Formulieren von Ge- und Verboten, sondern in der respektvollen Diskussion konkurrierender Vorschläge."

Eine Ausnahme von diesem erstaunlich einseitigen Denkmuster bildet für Todorov ausgerechnet Rousseau. Dieser geht von einem "soziablen Menschen" aus. Dieser "weiß sich immer außer sich, nur in der Meinung der anderen zu leben; und sozusagen aus ihrem Urteil allein bezieht er das Gefühl seiner eigenen Existenz."

Gesellschaft und Gemeinschaft sind nichts Unwesentliches und Nebensächliches, sondern vielmehr das tragende Element menschlicher Existenz, Daseinsform des Menschen schlechthin. Die Beziehungen zu Anderen erweitern das Selbst und machen es keineswegs geringer. Wir können und müssen uns nicht in einem Akt illusorischer Freiheit von der Gesellschaft "emanzipieren". Unsere Einzigartigkeit kann sich nur in einem sozialen Zusammenhang entwickeln und bewähren. Was Todorov vorschlägt, läuft nicht auf eine Geringschätzung des Individuums hinaus, sondern auf eine Korrektur, die uns darauf hinweist, dass die von uns so geschätzte Individualität nur durch die Anerkennung des Anderen und damit nur durch Gesellschaft im Großen und Kleinen möglich ist.

Objekt und Subjekt

Diese Korrektur erfolgt zunächst durch die Einsichten einer allgemeinen Anthropologie, durch psychoanalytische und psychologische Ansätze, die über Freud hinausweisen, in dessen Terminologie der Andere verräterisch vor allem als Objekt und nicht als ein Subjekt gegenüber vorkommt. Oder auch Konzepte aus dem Bereich von Phänomenologie und Sozialphilosophie – man denke etwa an das Resonanzmodell von Hartmut Rosa oder an das Respondenzkonzept von Bernhard Waldenfels oder an die alteritäre Philosophie Emmanuel Levinas’, deren Einfluss in den letzten zwei Jahrzehnten größer geworden ist.

All das beinhaltet keine naive Utopie. Der Andere und damit die Gesellschaft sind nicht die Hölle, aber auch nicht das Paradies. Sie sind "nur" die unhintergehbaren Bedingungen der Möglichkeit unseres Daseins, das wir gemeinsam mit Anderen gestalten. Jede Freiheit, die von ihnen absehen möchte, zerstört die sozialen Bande, deren unser Leben bedarf. Wir tun gut daran, auch im Hinblick auf die Gestaltung unseres Lebens, diese Bedürftigkeit nicht einfach zu ignorieren.

Das Zusammenleben bleibt privat wie politisch riskant. Die Einsicht von der grundlegenden Sozialität des Menschen hat indes weitreichende Folgen. Denn auch im psychotherapeutischen Diskurs unserer Tage dominiert das Versprechen der Perfektibilität des Einzelnen, der sich prinzipiell gegen die Anderen durchsetzen muss. Wer es schafft, über seinen Schatten zu springen, dem ist eines ganz sicher: der Glaube an sich selbst, lautet ein törichter Werbespruch einer großen österreichischen Bank, der auf die kapitalistische Indienstnahme eines marktkonformen Individualismus anspielt, der mit sich selbst konkurriert. Der große Sprung über den eigenen Schatten nährt die Vorstellung von der Selbsterschaffung des Menschen.

Plädiert für die Anerkennung des Anderen: Wolfgang Müller-Funk
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Neues Zusammenleben

Politisch könnte ein neues Zusammenleben gravierende Folgen haben. Gerade demokratische Politik bedarf "soziabler Menschen", gerade in der Auseinandersetzung mit jenen autoritären Bewegungen, die sich als die Freunde des kleinen Mannes tarnen, die aber nicht eigenständiges soziales Handeln im Sinn haben und schon gar kein Miteinander und friedlich ausgetragenen Streit fördern, sondern wie in der Corona-Krise einem dumpfen Wir-Gefühl ("Volksgemeinschaft" oder wutbürgerischer Bierzeltdemokratie) das Wort reden, in dem das Zuhören als Schwäche gilt und bewusst verweigert wird.

Wir dürfen den Feinden der Demokratie nicht den Begriff der Gemeinschaft überlassen, sondern sollten ihm – analog zur Neudeutung von Heimat – eine demokratische Bedeutung verleihen: Fähigkeit und Bereitschaft, das eigene Leben, die kleine und große Politik "gemeinsam" zu gestalten.

Man kann übrigens nicht über einen hypertrophen und leeren Individualismus sprechen und dabei bestimmte Formen des Narzissmus übergehen, die den Anderen als Lebensmittel für die eigene, in sich kreisende Selbstliebe verstehen, als beifälliges Publikum. So kommen wir auf Musils Grundgedanken zurück, wonach der Nationalismus einem kollektiven Individualismus und einem radikalen, aber leider effektiven Narzissmus entspringt. Es gibt Politikerinnen und Politiker, die ständig pathetisch "ihr" Land im Munde führen, aber letztendlich doch nur sich selbst meinen.

Trügerische Verwechslung

Diese trügerische Verwechslung aufzudecken ist Aufgabe einer Politik, die mittlerweile mit ihren Gegnern um die Fortexistenz und Weiterentwicklung einer Staatsform kämpft, die ihrem ganzen Wesen nach dialogisch ist. Kommunikation und Gespräch sind notwendig, weil es keine Übereinstimmung an und für sich gibt, sondern nur Verständigung. Einen Dialog zu führen bedeutet die Anderen ernst zu nehmen, zu wissen, dass er nie zu Ende kommen kann.

Dialog ist bekanntlich nicht nur Mittel, sondern Zweck: Ich bin nicht allein auf der Welt, meine Sicht der Dinge ist nicht unumstößlich. Im Dialog steckt ein Moment der Anerkennung des Anderen. Deshalb sind alle Blasen in den sozialen Netzwerken so schädlich, weil sie dem Prinzip der Einsamkeit und der Missachtung verpflichtet sind und nicht dem Dialog, der weiß, dass Verstehen und Zuhören ein schwieriger Prozess ist. (Wolfgang Müller-Funk, 13.1.2024)