Wer alt genug ist, um sich an die An­fänge des ­STANDARD zu erinnern, und wer ab dann in der Wiener Innenstadt oder in Meidling oder nahe der Pilgramgasse gewohnt hat, der wird ihn seither oft gesehen haben: den ­Kolporteur El Sayed El Safi, der seit 33 Jahren das Mäntelchen des ­STANDARD trägt und die gedruckte Ausgabe dieser Zeitung unter die Leute bringt – stets mit einem freundlichen "Habibi, wie geht’s?" auf den Lippen. Ein paar Hunderttausend Exemplare werden es wohl gewesen sein, die er in diesem Zeitraum an fixen Plätzen oder auf seinen Lokaltouren durch den ersten und siebten Bezirk unter die Leute gebracht hat. In letzter Zeit wurden es weniger, sodass man auch an ­seiner Geschichte die Krise der gedruckten Zeitung festmachen kann.

Kolporteur Wien letzter Zeitungsverkauf
Seit 33 Jahren verkauft El Sayed El Safi Zeitungen in den Innenstadtlokalen.
© Christian Fischer

Der Mann mit dem Papier

Die meisten, die er heute mit ­„Habibi!“ begrüßt, drücken ihm ihr Bedauern darüber aus, dass sie fast alles, was er da ausgebreitet auf seinem Arm liegen hat, schon im Internet gelesen hätten – das Magazin Profil, den Spiegel, die Zeit, auch den STANDARD. Dann geht dieser freundliche Mann wieder dahin mit seinem Einkaufswägelchen, das er hinter sich herzieht, und man freut sich, ihn bald wieder zu sehen. Aber kaum jemand weiß mehr über ihn, als dass er Zeitungen verkauft.

"Am 23. März 1962 in Port Said!", verrät El Sayed El Safi mir also Zeit und Ort seiner Geburt, als wir uns endlich zum Gespräch treffen. In der ägyptischen Hafenstadt an der Mittelmeerküste wuchs er mit sieben Schwestern und einem Bruder auf. In die Schlagzeilen kommt diese Stadt immer, wenn wieder "irgendetwas" mit dem Suezkanal ist, denn in Port Said fahren die Riesenschiffe der Welt in diese Seestraße ein oder aus ihr heraus, aber ihnen ­dabei zuzusehen, dafür fehlte ihm schon als Kind die Zeit.

Der "Baba", wie er seinen Vater liebevoll nennt, arbeitete neben zahlreichen anderen Jobs auch in einem Café und starb, als El Sayed 16 Jahre alt war. Davor musste auch der Junge bereits neben der Schule mit anpacken und Geld heranschaffen. Und Geld heranschaffen sollte seine Lebensaufgabe werden.

"Die Familie war arm, aber das Leben schön", sagt er, der nach der Schule als Autospengler und fliegender Händler arbeitete. Dazwischen ging er einmal für drei Jahre nach Asyut in Mittelägypten, bevor er in Port Said seine erste Familie gründete. Fünf Kinder sollte er mit seiner ersten Frau bekommen, der er ab 1990 von Wien aus Geld für die wachsende Familie nach Hause schickte. Ein Jahr zuvor war er mit einem Touristenvisum eingereist, zusammen mit einem Bekannten, der ihm vertrauenswürdiger erschien als der, der ihn nach Italien mitnehmen wollte. Sie kamen in einer Wohnung in der Ferdinandstraße im zweiten Bezirk unter, in der Stadt, in der seit Oktober 1988 eine neue Zeitung erschien – DER STANDARD.

Kolporteur Wien letzter Zeitungsverkauf
Durch die Straßen: El Sayed El Safi zieht von Lokal zu Lokal.
© Christian Fischer

Stolz in Lachsrosa

"Oscar Bronner – guter Mann!", sagt El Sayed bis heute, denn dessen Zeitung verschaffte auch ihm ein dringend benötigtes Einkommen. Er zog sich den lachsrosa Mantel an, während die meisten seiner Bekannten im Gelb der Krone oder im Rot des Kurier an den Kreuzungen standen, und während der kommenden 33 Jahre zog er diesen ­Mantel buchstäblich kaum mehr aus. "Es ist ein schöner Mantel!", lacht er, und anfangs trug er ihn am Bahnhof Meidling, wo er, wie er stolz erzählt, an guten Wochentagen 300 Exemplare seiner Zeitung verkaufte und am Wochenende auch einmal 500, da gab es freilich noch eine Abendausgabe. Im Rückblick waren es goldene Jahre, denn neben dem ­STANDARD verkaufte er auch – heute unvorstellbare! – 300 Exemplare von Spiegel und Profil pro Woche, dazu Playboys und ÖKM.

Nach einem Jahr in Meidling wechselte er schließlich für die nächsten fünfzehn Jahre zur U4-Station an der Pilgramgasse. "Ein guter Platz!", lacht El Sayed, aber vor einer Trafik gelegen, aus der heraus man ihn immer neidisch anschaute, weil er den Trafikanten die Kunden wegschnappte. Man beschwerte sich sogar bei der Auslieferung über ihn – aber El Sayed war gekommen, um zu bleiben.

Service sollte in der Folge neben der Freundlichkeit sein Erkennungsmerkmal werden. "Hast du kein Geld? Zahl morgen!", rief er denen zu, die keine Münzen eingesteckt hatten, die sich in seinen eigenen Manteltaschen zu großen Haufen sammelten.

Zwischenstopp

Aufgestanden ist er ab da jeden Tag um fünf Uhr. Um sechs Uhr fuhr er los, um die Zeitungen zu holen, um sieben baute er seinen Stand auf, bis elf Uhr verkaufte er, das war die erste Schicht. Zu Mittag ging er kurz nach Hause und machte sich etwas zu essen: Fisch oder Hühnersuppe, alles, was schnell ging. Für eine erste eigene Mietwohnung beim Südbahnhof zahlte er 2.000 Schilling Ablöse und 150 Schilling Miete, das meiste Geld schickte er seiner Familie nach Port Said.

Die Ehe zerbrach 2000, aber während die Scheidung lief, lernte er Hanan kennen, die Schwester des Anwalts. Seine neue Ehefrau zog zu ihm nach Wien, und mit ihr gründete er eine zweite Familie mit abermals fünf Kindern: Ahmed, Rahma, Radwa und Abdurrahman studieren oder besuchen Gymnasien, und der 2015 geborene Jüngste heißt Yusuf oder Josef nach dem Krankenhaus in Wien, in dem sie alle geboren wurden. Die Familie wohnt in einer 100-Quadratmeter-Gemeindebauwohnung am Schöpfwerk, wo El Sayed seiner bewährten Devise folgt: Bin ich freundlich zu den Leuten, sind die Leute auch freundlich zu mir. Mit gefüllten Zucchini oder Spinat, den er liebt, stärkt er sich, und die Kinder sind selbstständig und helfen sich gegenseitig, erzählt er.

Kolporteur Wien letzter Zeitungsverkauf
Immer freundlich – weshalb ihn viele, wie Kabarettist Michael Niavarani (links), unterstützen.
© Christian Fischer

Kauf aus Freundlichkeit

Um seine zwei Familien zu ernähren, verkaufte er an Wochenenden Rosen im Burgenland oder legt im Lager der Auslieferung den Zeitungen Reklame bei. Bevor er wieder seine Abend- und Nachtrunde dreht, die ihn jeden Tag vom Schwedenplatz über den Stephansplatz zum Café Engländer führt und von dort hin­über zum Landtmann und hinein in den Siebten, wo er um ein Uhr früh beim Volkstheater Schluss macht. Wenn er, bevor er um zwei Uhr ins Bett fällt, einmal ein Premier-League-Spiel oder einen Kinofilm mit Arnold Schwarzenegger zu sehen kriegt, dann ist das seine größte Freude. Um fünf Uhr muss er dann schon wieder raus, sein Blutdruck ist auf 190/110, das Herz schlägt zu schnell, der Rücken ist kaputt, und der Arzt rät ihm zu mehr Schlaf. "Aber ich muss arbeiten!", lacht er.

Denn auch die Kinder in Ägypten, wohin er alle paar Jahre reist, will er weiterhin unterstützen. "Alles ist teuer", sagt er, während ihm als Einkommen meist nur noch Zeitungskäufe aus Freundlichkeit oder als Form der Unterstützung bleiben. "Danke, Habibi!", hört man ihn dann, bevor er wieder weiterzieht mit seinem Einkaufswägelchen. Bis tief hinein in die Nacht in seinem Mantel, auf den er so stolz ist. (Manfred Rebhandl, 15.1.2024)