Jack Unterweger beim Prozess 1994.
Jack Unterweger beim Prozess 1994.
GEORGES SCHNEIDER / APA / pictur

Als Ernst Geiger 1991 Leiter der Wiener Mordkommission wurde, waren die Zeiten wildere als heute. 40 bis 50 Morde gab es damals jedes Jahr in der Bundeshauptstadt – inzwischen sind es weniger als 20. Unter ihnen: eine einzigartige Serie von Morden an Prostituierten. Geiger konnte damals noch nicht abschätzen, dass es "der herausforderndste Fall meiner ganzen Laufbahn" werden würde, wie er heute sagt. Und dass bald so viel Aufmerksamkeit auf ihm und der Polizei lasten würde. Angesichts der noch häufigen Überfälle auf Banken und Geldtransporter mit Schießereien ("Verbrechen, wie es sie heute so nicht mehr gibt") war der Druck, einen Täter zu finden, nicht so immens. Doch das sollte sich ändern, als der Verdacht aufkam, der Täter könnte Jack Unterweger sein.

Die Geschichte Jack Unterwegers ist eine der spektakulärsten Kriminalstorys Österreichs. 1974 hatte er sich an die 18-jährige Deutsche Margret Schäfer herangemacht und sie in einem Waldstück mit ihrem BH stranguliert. Schon zuvor war er in einem Fall in Salzburg unter Mordverdacht gestanden, die Tat konnte ihm jedoch nicht nachgewiesen werden.

Für den Fall Schäfer wurde er 1976 zwar zu lebenslanger Haft verurteilt, nach 15 Jahren kam er aber 1990 frei. Denn er hatte im Gefängnis zu schreiben begonnen und als "Häfnliterat", der seine Tat mit einer schwierigen Kindheit rechtfertigte, nicht nur reihenweise Frauen außerhalb der Knastmauern erreicht, sondern auch den Literaturbetrieb begeistert. Elfriede Jelinek, Ernst Jandl und Alfred Kolleritsch setzten sich damals nebst anderen aus der Literaturelite für seine Freilassung ein. Unterwegers Popularität in der Wiener Society ging danach durch die Decke. Er schrieb sogar fürs Kinderfernsehen.

Kriminal- als Kulturgeschichte

Was abseits des Scheinwerferlichts geschah, beschreibt Geiger in seinem am Montag erscheinenden Roman Mordsmann. Im Juni jährt sich nämlich der Tod Unterwegers, der sich 1994 vor der Urteilsverkündung im Prozess um die Prostituiertenmorde erhängte, zum dreißigsten Mal. Ende Jänner legt Malte Herwig die "dokumentarische Erzählung" Austrian Psycho vor, viele Anfragen bei Geiger von TV-Sendern und Streamingdiensten lassen heuer zudem noch einige Dokus erwarten.

460 Seiten stark, ist Mordsmann aber nicht nur der erste Beitrag, der sich heuer mit dem dunklen Faszinosum befasst. Es ist vielleicht auch der bestinformierte. Denn "ungefähr fünf Ordner mit Zeitungsausschnitten zum Fall" hat Geiger gesammelt – wie er alle Fälle sammelte. "Kriminalgeschichte ist auch Kulturgeschichte. Jede Zeit hat ihre Kriminalität und Polizeiarbeit. Das zu dokumentieren ist wichtig, weil das später keiner mehr machen kann", sagt Geiger. Sein Keller ist voll mit Kartons. Schon die zwei Krimis Heimweg (2021) und Goldraub (2022) hat er daraus destilliert. 2023 befasste er sich in Berggasse 41 mit der Wiener Kripo in der Nazizeit.

Wie man Kriminalfälle spannend erzählt, weiß er (1954 in Wiener Neustadt geboren, 2017 pensioniert) also. Zwar hat Geiger, wie es sich für eine gute Erzählung und Spannungsbögen gehört, in Mordsmann mehrere Protagonisten von damals zu wenigen Figuren verdichtet, "aber im Prinzip ist alles faktengetreu". So erfunden hat er etwa eine junge Psychologin, die Skepsis gegenüber den Urteilen der Gerichtsgutachter zu Unterweger anmeldet und die Ermittler damit konfrontiert. Die Expertisen, die er ihr zuschreibt, fänden sich aber tatsächlich alle in Gutachten, sagt Geiger. Auch Zeitungsartikel, Polizeinotizen, Gesprächsprotokolle, Reflexionen collagiert er in die luzide, mit Zug rollende Erzählung hinein. Derzeit sehr erfolgreiche True-Crime-Podcasts machen es nicht anders, nicht besser.

Schwierigkeiten der Ermittler

Zunächst besteht die Schwierigkeit der Ermittlungen darin, zu erkennen, dass die Morde in Wien mit anderen Morden in Graz, Vorarlberg, Prag und sogar Los Angeles zusammenhängen. Elf Frauen wird Unterweger in den 20 Monaten seiner Freiheit umgebracht haben. Die zweite Schwierigkeit? Unterweger war nicht nur populär, er passte auch nicht ins Täterprofil eines Mannes, "der Probleme mit Frauen hat und sich als Spanner herumtreibt", sagt Geiger im Rückblick. "Er war zwar nach einer Mordverurteilung frisch aus dem Gefängnis gekommen, hatte aber eine schöne Wohnung im achten Bezirk, fuhr einen Mustang und hatte damals knapp 100 Frauenbeziehungen". Zudem mied Unterweger die Polizei nie.

Ernst Geiger ermittelte gegen Unterweger.
Ernst Geiger ermittelte gegen Unterweger.
Lukas Beck

Genauso wenig wie die Medien, die er gezielt kontaktierte, denen er sogar auf der Flucht nach Miami Interviews gab. Wenn man Mordsmann liest, greift man sich an den Kopf, wie das alles so geschehen konnte. Nicht mehr denkbar ist für Geiger das Ausmaß, in dem Medien das Privatleben von Tätern und Opfern recherchierten. Auch mit dem Medienrecht wäre das heute nicht mehr vereinbar, das nicht nur Persönlichkeitsrechte schützt, sondern auch Polizeiarbeit: "Die Ermittlungen sind bei einem so bekannten Tatverdächtigen im Prinzip gleich wie bei jedem anderen, aber wenn ein Fall so spektakulär ist, man dauernd beobachtet wird und die Berichterstattung vorwiegend aufseiten des Verdächtigen ist, hat das Einfluss."

"Würde der Job auch mich verändern?", fragt sich Geiger im Roman. Hat er? Jede Beschäftigung verändere einen, sagt Geiger. Man müsse damit umgehen lernen, könne bei 40 Jahren im Beruf "nicht mit jedem Opfer mitweinen". Wichtig waren für ihn Familie, Freunde, Sport und Hobbys als Ausgleich. "Wenn man einen Polizeitunnelblick bekommt, scheitert man." Leichter gesagt als getan, "wenn die Frau einem erzählt, wie es der Tochter in der Schule geht, und man gar nicht richtig zuhört, weil der Kopf in einer heißen Phase steckt". Auch solche Szenen beschreibt er in Mordsmann. Sie kämen in Krimis zu wenig vor. Er erhält daher Zuschriften von Kollegen, die ihn gerne lesen. Vieles in Mordsmann ist beklemmend. Die Gratwanderung, das, was man Laien zumuten kann, gelingt. (Michael Wurmitzer, 14.1.2024)