Stille Depression
Illustration: Fatih Aydogdu

Die Videoplattform Tiktok hat bereits einige Begriffe geprägt, und im Herbst 2023 kam wieder einer dazu. Die USA befänden sich in einer gigantischen Wirtschaftskrise, einer "Silent Depression", hieß es in einigen viralen Videos. Anders als in der "Great Depression" in den 1930er-Jahren gebe es in dieser Krise keine Massenarbeitslosigkeit. Es würden auch keine Aktienmärkte ins Bodenlose stürzen. Stattdessen sei für viele Menschen das Leben, der kleine Wohlstand, schleichend unleistbar geworden. In den 30ern habe ein Auto 46 Prozent eines durchschnittlichen Jahresgehalts gekostet, heute seien es 85 Prozent, rechnete der Makler und Finanz-Influencer Freddie Smith in einem Clip vor. "You’re in a Silent Depression", sagte Smith, auch wenn es den Menschen nicht bewusst sei.

Die "Bidenomics"

Würde man amerikanische Ökonomen fragen, würden die das ziemlich sicher anders sehen. Der amerikanischen Wirtschaft geht es gut, also verhältnismäßig. Das BIP wuchs 2023 um 2,6 Prozent, im November lag die Inflation bei 3,2 Prozent. Die Arbeitslosenquote sank gegen Ende des Jahres auf 3,7 Prozent. Den Schock des Ukrainekriegs haben die USA, die anders als Europa nicht von Energielieferungen abhängig sind, besser verkraftet. Das ist nicht die Rezession, die manch ein Ökonom vorausgesagt hatte, als auch in den USA die Zinsen in die Höhe wuchsen, um die Inflation zu bekämpfen. US-Präsident Joe Biden kann mit diesen Zahlen zufrieden sein. Die "Bidenomics" wirken. Das Internet kreierte diesen scherzhaften Begriff für die Wirtschaftspolitik des Präsidenten, später übernahm er ihn selbst.

Nur: Die Segnungen der "Bidenomics" scheinen nicht im Gefühl der Menschen anzukommen. Und das ist nicht auf Tiktok beschränkt. Der US Consumer Confidence Index, der die wirtschaftlichen Erwartungen der Konsumenten misst, sank zwischen Juli und November 2023 um zehn Punkte. Unter politischen Beobachtern und Ökonomen entstand eine Debatte: Warum fühlt sich die Wirtschaft für die Menschen schlechter an, als sie ist? Oder genauer: als es die offiziellen Kennzahlen sagen? Liegt eine der beiden Seiten falsch? Und wenn ja, welche?

"Der Durchschnittsmensch organisiert sein Wirtschaftsverständnis rund um zentrale Begriffe wie Arbeitslosigkeit oder Inflation", sagt Katharina Gangl, Leiterin der Forschungsgruppe Verhaltensökonomie am IHS. Ökonomen würden die Welt hingegen durch die Brille von Theorien und Modellen betrachten. "Ökonomen schauen sich einen Wert wie die Inflation niemals isoliert an, sondern setzen ihn immer in Kontext zu Wirtschaftswachstum und anderen Kennzahlen." Dieses zirkuläre Verständnis von Wirtschaft sei einer der Gründe, warum die Wahrnehmung von Laien und Experten auseinandergehen könne.

Ist Undank der Lohn?

In Österreich schaut die Situation ein bisschen anders aus. Hier ist die wirtschaftliche Lage – wie überall in Europa – tatsächlich schlechter als in den USA. Österreichs Wirtschaft schrumpfte 2023 um 0,8 Prozent. Aber trotzdem gibt es auch hier eine kleinere Analogie: Die schwarz-grüne Regierung soll, so hört man immer wieder, unzufrieden darüber sein, dass die Menschen die finanziellen Hilfsmaßnahmen nicht ausreichend würdigen würden. Die Regierung hat viel Geld ausgegeben, um den Kaufkraftverlust durch die auch im EU-Vergleich hohe Inflation auszugleichen. In der Stimmung der Menschen spiegelt sich das nicht unbedingt wider. Knapp zwei Drittel der Österreicher sind mit der Regierungsarbeit unzufrieden, ÖVP und Grüne liegen in Umfragen bei Werten, mit denen niemand dort zufrieden sein kann.

Es überrascht nicht, dass die Teuerung das wirtschaftliche Phänomen mit der aktuell höchsten Bedeutung für die Menschen ist. Zumal viele Konsumenten mit höherer Inflation keine Erfahrung haben: Seit Mitte der 90er-Jahre pendelte die Inflation in Österreich immer um die erwünschten zwei Prozent herum, mit leichten Schwankungen rauf und runter.

Die Tiktok-Ökonomie

Bei der Teuerung kommen noch ein paar altbekannte Effekte hinzu: Die gefühlte Inflation ist meist circa doppelt so hoch wie die gemessene. Im offiziellen Warenkorb wirken sich vor allem langfristige Konsumgüter wie TV-Geräte mindernd aus, die in der Wahrnehmung aber schwächer wirken als der tägliche Lebensmitteleinkauf. Der ist stellenweise zum Horrortrip geworden: Die Arbeiterkammer Wien ermittelte in ihrem regelmäßigen Monitoring, dass sich der Preis einer durchschnittlichen Tiefkühlpizza zwischen März 2022 und März 2023 fast verdoppelte. Es gibt auch noch einige statistische Effekte, die in den Unterschied zwischen gemessener und gefühlter Inflation hineinspielen. So bildet der Warenkorb zwar ab, dass der Preis eines iPhones 13 im Jahresvergleich deutlich fällt. Aber nicht, dass der Konsument im Jahr darauf das iPhone 14 kauft.

In den USA sorgte diese Gemengelage dafür, dass vor allem junge Leute die wirtschaftliche Lage des Landes düster wahrnehmen. Sieben von zehn Amerikanern zwischen 18 und 29 Jahren (also die Gen Z) sagten in einer Umfrage im November, der US-Wirtschaft gehe es "schlecht" oder "sehr schlecht". Deutlicher negativer als die Gesamtbevölkerung. Die New York Times führte diese Stimmung einmal auf etwas zurück, was sie "Tiktok Economics" nannte: eine alternative Wirtschaftsanalyse, gegen die man mit offiziellen Zahlen nicht ankomme.

Ende des Jahres versuchte das Weiße Haus auf seiner Webseite, mit zehn positiven Grafiken das "wahre" Bild der US-Wirtschaft 2023 zu zeigen. Diese Art der Reaktion, auch unter Ökonomen beliebt, war da im Internet schon zum Meme geworden: "Here’s a chart", also sinngemäß: Du kannst deine Miete nicht zahlen? Egal, hier ist eine Kurve, die zeigt, dass eigentlich alles super ist.

Kopf versus Bauch

Der Pessimismus vieler junger Menschen hat dann doch auch mehr Gründe als die Tiktok-Ökonomen. In den offiziellen Statistiken verstecken sich tatsächlich ein paar "stille" Wahrheiten, die Grund zur Sorge bereiten. Ein Beispiel: Zwar ist die Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen in den USA gering. Gleichzeitig haben mehr als zwei Drittel nicht das Gefühl, dass ihr aktueller Job sicher ist. Darüber hinaus arbeitet knapp ein Viertel der Gen Z in einem Job, der keine Benefits wie Krankenversicherung bietet. Das trifft Minderheiten noch einmal stärker: In einer Umfrage im Herbst gaben 42 Prozent der jungen Latinos an, ihren aktuellen Job nicht wegen der Karriere zu machen, sondern um zu überleben. 44 Prozent gingen auch gar nicht davon aus, dass ein guter Job für sie in Reichweite sei.

Dass sich junge Menschen prinzipiell ärmer fühlen, ist nicht verwunderlich – sie sind es meist auch. Eine Konsequenz des Senioritätsprinzips, das in den meisten westlichen Gesellschaften gilt. Aber solange es eine Aufstiegserwartung gibt, kommt finanzielle Zufriedenheit eben später im Leben. Und diese Erwartung wackelt. In einer Studie des Wirtschaftsprüfers Deloitte gaben vier von zehn Österreichern zwischen 18 und 29 Jahren an, ihr gesamtes Geld für das tägliche Leben zu verwenden. Immobilienbesitz beispielsweise ist so – zumindest ohne Erbe – für viele nicht realistisch. Sie können es sich einfach nicht leisten.

Unzuverlässige Zahlen

Womit wir wieder bei dem Tiktok-Video, der "Silent Depression" und den 1930er-Jahren wären. Als das Video im Herbst viral ging, reagierten Ökonomen darauf, wie Ökonomen eben reagieren: Here’s a chart. Die Zahlen für die 1930er-Jahre seien extrem unzuverlässig. Und zweitens würden sie erhebliche Steigerung der Lebensqualität nicht erfassen. Selbst wenn Menschen heute wirklich einen größeren Teil ihres Einkommens für die Miete ausgeben als in den 1930er-Jahren – sie leben nicht nur in besseren Wohnungen, sondern auch auf mehr Quadratmetern pro Person.

Aber das ist eben nur die eine Seite der Wahrnehmung, der Kopf. Die andere ist der Bauch. "Diese Videos machen die Erfahrungen der jungen Menschen, dass das Leben immer weniger leistbar sei, greifbar", fasste es eine US-Journalistin zusammen, die sich für ein Feature über das Gefühl der "Silent Depression" durch Statistiken wühlte. "Das macht sie so erfolgreich." (Jonas Vogt, 14.1.2024)