Es sind Warnrufe, die im Wahljahr 2024 die Regierenden beunruhigen dürften. Immer lauter trommeln Österreichs Industriekapitäne, dass der Standort in Gefahr gerät. "Wir hatten bisher eine sehr hohe Standortloyalität von Betrieben", sagt etwa Wirtschaftskammer-Chef Harald Mahrer. Doch das beginne sich zu ändern. So gebe es Signale von Betrieben, Österreich ganz zu verlassen oder Erweiterungsinvestitionen nicht mehr zu tätigen. "Da sollten die Alarmglocken läuten." Die Industriellenvereinigung (IV) schlägt ähnliche Töne an, laut Befragungen bewerten ein Drittel der Unternehmen die Aussichten als schlecht.

Und es gibt tatsächlich Beispiele dafür, dass Betriebe Österreich zwar nicht den Rücken kehren, aber sich doch dafür entscheiden, woanders zu investieren. KTM-Chef Stefan Pierer kündigt etwa an, nach "China und Indien" verlagern und 300 Stellen bei seinem Motorradbauer in Mattighofen abbauen zu wollen.

Nicht jeder Industriezweig ist energieintensiv in der Produktion, Maschinen- und Autobauer trifft der Anstieg der Energiepreise zum Beispiel weniger als andere Branchen.
EPA/ANNA SZILAGYI

Daraus ergeben sich zwei Fragen: Was bereitet den Wirtschaftskapitänen solche Sorgen, und deutet sich ein echter Trend zur Abwanderung an, oder sind das nur Drohungen, um politische Zugeständnisse zu bekommen, etwa Steuersenkungen?

Neu sind die Warnungen nicht. Unternehmer haben auch schon in der Vergangenheit vor einer Abwanderung gewarnt. Aktuell haben sie aber bessere Argumente. Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine sind Strom- und Gaspreise in Europa gestiegen. Nach einem Höhepunkt im Sommer 2022 sind die Kosten zwar wieder zurückgegangen. Im Schnitt kostete in Europa 2023 Gas 13 US-Dollar je Million British Thermal Units, das ist eine Messgröße für Energie. In den USA waren es um die 2,7 Dollar. Die Preise in Europa waren also zuletzt bis zu viermal höher. Dazu kommt, dass die Arbeitskosten in Österreich derzeit anziehen.

Kein Bock auf Investitionen

Weil die Inflationsraten in Österreich höher waren als im Euroschnitt, waren auch die Lohnabschlüsse höher. Im vergangenen Jahr sind die Lohnstückkosten in der österreichischen Industrie um 10,9 Prozent gestiegen, für heuer werden nochmals 8,6 Prozent plus erwartet. Österreich dürfte damit bei der preislichen Wettbewerbsfähigkeit im Verhältnis zu seinen wichtigsten Handelspartnern verlieren, sagt der Ökonom Benjamin Bittschi vom Wifo-Institut.

Wer bei den Industriekapitänen nach Belegen für die Abwanderung fragt, wird aktuell nicht wirklich fündig. Die Wirtschaftskammer hat eine Befragung zu dem Thema angekündigt. Doch erst gegen Ende Februar soll es so weit sein. Aus den bisherigen Daten zur Entwicklung der Industrie lässt sich ebenso wenig ablesen, dass heimische Betriebe das Land verlassen.

Der Ökonom Martin Ertl vom Forschungsinstitut IHS hat für den STANDARD eine Auswertung gemacht, der den Anteil der Industrie an der Bruttowertschöpfung zeigt bis inklusive des dritten Quartals 2023. Österreichs Industrie trägt zum heimischen Wohlstand seit 20 Jahren annähernd gleich viel bei, wobei Ertl der Hinweis wichtig ist, dass die jüngsten Zahlen für 2023 noch korrigiert werden können.

Industrieproduktion im Vergleich.

Und bei der Produktion? Hier gibt es tatsächlich einen Rückgang, die Industrieproduktion lag Ende des Jahres 2023 um etwa 4,3 Prozent unter dem Vorjahreswert. Was es gibt, sind durchwachsene Daten bei den Investitionen. Und ein Viertel der Industriebetriebe, die vom Wifo regelmäßig befragt werden, gaben im Frühjahr 2023 an, ihre Investitionen zurückfahren zu wollen. Allerdings dürfte das zu einem guten Teil auf die schwache Konjunkturlage zurückzuführen sein. Jedenfalls war der Rückgang der Industrieproduktion im Euroraum mit 6,8 Prozent noch deutlich stärker als hierzulande. Das Minus für Österreich muss in Relation gesetzt werden: Die Industrie produziert heute um ein Fünftel mehr als noch 2015.

Teure Energie, höhere Lohnkosten, schwache Investitionen, bisher keine belegbaren Hinweise für eine Standortabkehr. Das muss natürlich nicht so bleiben. Wirtschaftsforscher sagen, dass es dauert, bis sich Investitionsentscheidungen bemerkbar machen. Eine Millioneninvestition bedarf ausführlicher Planung. Das ändert nichts, dass Belege vorbringen sollte, wer Ansätze eines Exodus erkennt.

Die Wirtschaftsvertreter verbinden ihre Warnungen auch mit einem Namen: SPÖ-Chef Andreas Babler. Sollte dieser seine Vorschläge für eine Reduktion der Arbeitszeit umsetzen, wäre das fatal, weil sich damit der Fachkräftemangel noch verschärfen würde, sagen Wirtschaftskammer und IV. Allein schon das Gerede darüber wäre problematisch. Ähnliche Warnungen vor einer FPÖ-Regierungsbeteiligung gibt es bisher von Industriellen nur vereinzelt.

Wer rechnen kann ...

Aber abgesehen von Reformideen der SPÖ – gibt es aktuell Gründe, eine Abwanderung zu fürchten?

Dazu gibt es unterschiedliche Ansichten. Der arbeitgebernahe Thinktank Agenda Austria warnt schon länger wegen der gestiegenen Produktionskosten, dass "wer rechnen kann, im Ausland produziert".

Ökonom Bittschi widerspricht: Im Verhältnis zu ihren wichtigen Handelspartnern hat die heimische Industrie ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit 2022 etwas verbessert. Das liegt wohl daran, dass die Löhne hierzulande verzögert ansteigen. Dieser Vorteil geht wieder verloren. Aber insgesamt entwickeln sich Österreichs Lohnstückkosten seit 20 Jahren parallel mit jenen der Partnerländer, daran dürften auch zwei höhere Lohnabschlüsse nicht viel ändern, so Bittschi. Entwarnung also, sofern die Inflation in Österreich nicht wieder davonzieht.

Was ist mit den Energiekosten? Die bleiben ein Problem. Allerdings zeigen Zahlen aus Deutschland, dass 80 Prozent des Energieverbrauchs in der Industrie in energieintensiven Branchen wie der Stahlerzeugung oder Chemie passieren. In Österreich arbeiten etwa 14 Prozent der Industriebeschäftigten in energieintensiven Zweigen. Das Problem ist also eingegrenzt, wenn man so will.

Hier ist der Druck natürlich groß und auch wenn sie nur ein Teil der Betriebe sind, bilden sie "wichtige Bestandteile der industriellen Basis", sagt der Wifo-Ökonom Klaus Friesenbichler. Er hat eine Analyse auf Basis von Befragungen dazu durchgeführt, wie diese Unternehmen auf die hohen Energiepreise reagieren. Die meisten denken demnach an einen Maßnahmenmix, der aus Energiesparmaßnahmen und einer Neugestaltung der Lieferketten besteht, aber auch eine Teilverlagerung der Produktion wird erwogen.

Doch die Produktion außerhalb der EU zu verlagern, wo Energie wirklich günstiger ist, birgt auch Risken, sagt die Ökonomin Agnes Kügler. Womit Österreich punkten kann, ist politische Stabilität, das trifft auf viele andere Staaten nicht zu. Die USA sind stabil, die Energiepreise niedriger. Doch der Weg von dort in den europäischen Markt ist weit. (András Szigetvari, 16.1.2024)