Wer den Norden Südkoreas besucht, wird fast überall daran erinnert, dass die Teilung der Koreanischen Halbinsel nicht endgültig sein soll. Wer im Westen des Landes in Richtung der sogenannten entmilitarisierten Zone reist, passiert einen Checkpoint, der den Namen "Pforte der Wiedervereinigung" trägt. Im Osten verlaufen Schienen einer "innerkoreanischen" Bahnlinie, die theoretisch Nord und Süd verbinden soll, auch wenn sie nach einer Annäherung in den 1990er-Jahren nie in den Regelbetrieb ging.

Bei den Olympischen Winterspielen 2018 sorgte ein gemeinsames Frauen-Eishockeyteam für Aufsehen. Und natürlich gibt es auch ein "Wiedervereinigungsministerium", das für die Beziehungen mit dem Norden zuständig ist. Auch wenn in Umfrage viele vor allem junge Koreanerinnen und Koreaner eine Wiedervereinigung schon lange als unrealistisch und teuer ansehen und daher eher ablehnen. In großen Teilen der Bevölkerung lebt sie als Traum – und in der Politik als eine Art Illusion, mit der sich der Waffenstillstand mit dem kommunistischen Norden leichter halten lässt.

Kim Jong-un bei seiner Ansprache zum neuen Jahr (auf einem Propagandabild der staatlichen Agentur KCNA).
via REUTERS/KCNA

Zumindest so lange, wie die gleiche Illusion auch im Norden lebte. Doch nun hat Diktator Kim Jong-un diese in einer Ansprache zum Jahresbeginn aufgegeben. Es sei mittlerweile "eine unvermeidliche Realität", dass die Wiedervereinigung mit dem Süden "eine Illusion bleiben" werde, sagte er. Und das müsse man sich eingestehen. Die beiden Koreas seien nach Jahrzehnten der Trennung keine Brüdervölker mehr, nicht mehr "gleichen Blutes und nicht mehr homogen". Südkorea sei über die Jahre zu einer "Missbildung" geworden, zitiert ihn die "Arbeiterzeitung" Rodong Sinmun laut einem Beitrag des Nordkorea-Forschers Rüdiger Frank auf "38 North". Das Land sei gegenwärtig "kolonial unterworfen" und "von der Yankee-Kultur beschmutzt".

Das Volk soll umerzogen werden

In gewohnt konsequent-theatralischer Form sollen den Worten auch bald Taten folgen. Der auf nordkoreanischem Gebiet gelegte Schienenteil der innerkoreanischen Eisenbahn soll abgerissen, andere Monumente in der Nähe der Grenze umgebaut werden. Das monumentale "Denkmal für die Wiedervereinigung", das 2001 im Gedenken an den ersten Staatschef Kim Il-sung errichtet wurde, soll zerstört werden. Kim Jong-un bezeichnete es in seiner Rede als "Schandfleck", wie "NK News" berichtet. Auch nordkoreanische Behörden, die bisher mit dem Kontakt mit Südkorea betraut waren, werden geschlossen.

Als "Schandfleck" bezeichnet Machthaber Kim Jong-un das monumentale "Denkmal für die Wiedervereinigung" in Pjöngjang. Weil man die friedliche Wiedervereinigung nun auch offiziell nicht mehr anstrebt, soll das Monument abgetragen werden.
imago/ITAR-TASS

Südkorea will man in Pjöngjang künftig als "Hauptfeind" sehen, geht aus den Worten des Machthabers hervor. Dass dies so sei, müsse man auch den Menschen in Nordkorea erzieherisch näherbringen, betonte er – eine beträchtliche Aufgabe angesichts dessen, dass die bisherige Propaganda des nordkoreanischen Staates stets den Wunsch nach der friedlichen Wiedervereinigung ins Zentrum stellte.

Ein Grenzstreit steht vor der Tür

Darüber hinaus macht Beobachtern ein weiterer Aspekt von Kims Rede Sorge: Kim Jong-un stellte nämlich auch den Plan vor, die Grenzen des eigenen Staates unverrückbar in der Verfassung festzulegen. Zu dem Schluss, dass dies nötig sei, sei er bei der Lektüre von Verfassungen anderer Staaten gelangt, sagte er. Das Problem dabei ist, dass sich Nord- und Südkorea in vielfacher Hinsicht von anderen Staaten unterscheiden – unter anderem dadurch, dass die beiden Länder seit dem Ende der Kampfhandlungen im Koreakrieg nicht im Frieden nebeneinander leben, sondern in einem Waffenstillstand. Dazu gehört, dass auch über die Abgrenzung beider Länder nicht in allen Bereichen Einigkeit besteht. Kim hob in seiner Rede die sogenannte Northern Limit Line (NLL) hervor – eine Seegrenze, die von Südkorea anerkannt wird, die Nordkorea aber ablehnt. An der NLL haben sich schon in der Vergangenheit immer wieder Scharmützel zwischen den beiden Staaten gebildet, im Oktober 2022 feuerten beide Seiten dort sogar Warnschüsse ab.

Kim Jong-un gibt die Hoffnung auf eine friedliche Wiedervereinigung nach eigenen Worten auf. In Südkorea wird er damit vorerst weiterhin nur via TV auftreten.
AP/Ahn Young-joon

Dass es sich bei der geplanten Grenzfestlegung und dem Verzicht auf den Wunsch nach Wiedervereinigung um einen Versuch handeln könnte, den gegenwärtigen Waffenstillstand zu einem stabileren Nebeneinander zweier Staaten zu ändern, ist vor diesem Hintergrund unwahrscheinlich. Denn sollte Nordkorea tatsächlich einseitig eine Grenze festlegen, wäre ein Konflikt mit Südkorea um deren Verlauf ohne Zweifel wahrscheinlicher.

Guter Zeitpunkt für den Krieg

Vor diesem Hintergrund ließ vor wenigen Tagen ein alarmierendes Meinungsstück der Nordkorea- und Atomforscher Robert L. Carlin und Siegfried S. Hecker aufhorchen, das ebenfalls auf "38 North" publiziert wurde. "Bereitet sich Kim Jong-un auf einen Krieg vor?", heißt es darin, und wer es liest, der kann nur zum Schluss kommen, dass die Antwort der beiden Forscher darauf "Ja" lautet. Sie argumentieren, dass man die Motivation des nordkoreanischen Regimes im Westen immer noch falsch einschätze. Ziel der Kim-Dynastie sei seit Jahrzehnten eine Normalisierung der Beziehungen zu den USA gewesen, in die insbesondere Kim Jong-un mit seinen mehrfachen Treffen mit Donald Trump massives Prestige investiert habe. Das Scheitern des zweiten großen Gipfels mit dem US-Präsidenten 2019 habe Kim als Gesichtsverlust empfunden – und es habe Nordkorea auch deutlich gemacht, dass dieses strategische Staatsziel nicht zu erreichen sei. Wenn dieses Ziel, und damit ein Ende der Sanktionen auf friedlichem Wege, nicht mehr erreichbar sei, könne sich Nordkorea in einen Krieg gezwungen fühlen.

Dass der Westen aktuell mit dem Krieg in der Ukraine und jenem in Nahost abgelenkt sei und man selbst zudem mit der Rüstung gute Fortschritte mache, könnte Nordkorea als guten Zeitpunkt für einen Überraschungsangriff empfinden. Dazu passt, dass man sich in Nordkorea einen neuen Alliierten gesucht habe: Zwar sei das Verhältnis zu China noch immer deutlich getrübt, dafür aber jenes zu Russland wesentlich verbessert, seitdem Pjöngjang massenhaft Artilleriemunition und weitere Rüstungsgüter für den russischen Überfall auf die Ukraine bereitstellt. Bei einem Treffen mit Russlands Außenminister Sergej Lawrow betonte Außenministerin Choe Son-hui etwa, die Beziehungen zwischen den beiden Ländern würden "nach den Plänen unserer Führer" voranschreiten, sie seien vom Geiste der Kameradschaftlichkeit getragen.

Gefährliche Missverständnisse

Freilich gibt es auch an dieser Darstellung Kritik. So stellt sich etwa die Frage, ob es ein kluger Schachzug Nordkoreas wäre, große Mengen an Rüstungsgütern für einen Krieg in Europa bereitzustellen, wenn man zugleich einen Kampf um das Überleben des eigenen Regimes mit Südkorea und den USA plante. Darüber hinaus, betonen mehrere von der Deutschen Welle in einer Zusammenschau befragte Fachleute, wäre auch sonst der Moment für Nordkorea ungünstig. China sei aktuell wieder eher um eine Annäherung an die USA bemüht, einen Krieg, den Washington dann im eigenen Hinterhof führen würde, wolle Peking mit Sicherheit vermeiden.

Viel gefährlicher, betont Ryo Hinata-Yamaguchi von der Uni Tokio in dem Text, sei weiterhin eine mögliche Fehlkalkulation einer der beiden Seiten. Das Risiko für ein solches fatales Missverständnis sei zuletzt tatsächlich gestiegen. Denn Nordkorea hatte auch schon vor Kims Rede die bisher bestehenden Kontaktmöglichkeiten mit dem Süden großteils gekappt. (Manuel Escher, 16.1.2024)