Eine Palästinenserin mit ihrem Kind vor zwei Wochen inmitten von Zerstörung in Rafah im Süden des Gazastreifens.
AFP/-

"Das kleine Mädchen hat eine halbe Stunde lang vor Schmerzen geschrien, weil wir keine Betäubungsmittel mehr haben und dennoch den Verband nach ihrer Beinamputation wechseln mussten", schildert Léo Cans, ein Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen (MSF) im Gazastreifen, per Audiobotschaft den Fall der achtjährigen Miriam, der ihn seit vergangenem Sonntag nicht mehr loslässt.

Gegen Ende der Behandlung rief sie nach ihrer Mutter. Doch die wurde bei demselben israelischen Luftangriff vor drei Wochen getötet, bei dem Miriam beide Beine verlor, erzählt Cans von seinem jüngsten Besuch im Europäischen Krankenhaus. Der Gazakrieg hinterlasse bei Kindern nicht nur massive körperliche, sondern auch tiefe psychologische Wunden.

Cans ist einer der wenigen internationalen Helfer im umkämpften Khan Younis, der größten Stadt im Süden Gazas. Zuletzt befand er sich im Nasser-Krankenhaus, wo MSF ein Team von Ärztinnen und Krankenpflegern unterstützt, das seit Wochen am Limit arbeitet. Auch dort gebe es viel zu wenige Ärzte für die vielen Verletzten, und auch dort drängten sich Zivilisten auf den Gängen, die Schutz vor israelischen Angriffen suchten – laut Cans eine "katastrophale Situation".

Heftige Kämpfe im Süden

Ausgerechnet dort geht jetzt die Schlacht zwischen Israel und der Hamas so richtig los: Seit Tagen gibt es rund um das Nasser-Spital, das größte noch funktionierende Krankenhaus im Süden, heftige Luftangriffe. In einem Video in Social Media berichtet Cans, dass dabei 150 Meter vom Spital entfernt zwei Kinder unter sechs Jahren getötet wurden. Befürchtet wird, dass die Kämpfe den Betrieb der Klinik lahmlegen.

Léon Cans
Der Franzose Léon Cans ist für MSF in Gaza. Internationale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden alle paar Wochen aus dem Kriegsgebiet geholt.
MSF

Seit dem Massaker vom 7. Oktober – jenem Tag, an dem Terroristen rund 1.200 Israelis ermordeten und mehr als 240 entführten – greift die israelische Armee, die ihrerseits 190 gefallene Soldaten meldet, mit voller Härte in Gaza durch. Das Ziel: die Hamas zerschlagen und die verbleibenden 132 Geiseln, um deren Wohl seit mehr als 100 Tagen gebangt wird, befreien. Ein baldiges Ende der Kämpfe hat Israel zuletzt ausgeschlossen.

Die vorläufige Bilanz ist bereits dramatisch: Geschätzt werden rund 25.000 getötete Palästinenserinnen und Palästinenser, davon wohl etwa zwei Drittel Zivilisten und Zivilistinnen. Zudem haben eine halbe Million Menschen kein Zuhause mehr, in das sie nach dem Krieg zurückkehren können. UN-Angaben zufolge wurden mehr als 85 Prozent der Bevölkerung Gazas bisher zumindest einmal vertrieben.

Kälte in der Nacht

So auch der Palästinenser Maisara Abualqumboz, den DER STANDARD am Donnerstag in Khan Younis per Nachricht erreichte – konkret zehn Autominuten vom Nasser-Spital entfernt, in einem von der Uno betriebenen Ausbildungszentrum, wo seit Kriegsbeginn hunderte Familien Zuflucht suchen. Es sind so viele, dass alle Männer draußen in Zelten schlafen müssen. Auch Abualqumboz. Seine Schwester, ihr kleiner Sohn und die Tochter schlafen wie alle Frauen und Kinder drinnen. "Dort ist es sicherer", sagt der 31-Jährige, während im Hintergrund seiner Sprachnachricht der Lärm von Kampfflugzeugen dröhnt. Es ist eine alltägliche Geräuschkulisse, wie er sagt.

Maisara Abualqumboz
Der 31-jährige Maisara Abualqumboz hat bis vor Kurzem in Großbritannien studiert und gearbeitet. Als der Krieg ausbrach, war er in Gaza zu Besuch - und kommt nun, wie so viele andere Palästinenserinnen und Palästinenser, dort nicht mehr weg.
Privat

Immer wieder höre man auch Kämpfe und Schusswechsel in nächster Nähe, erzählt Abualqumboz. Seine Stimme klingt müde. Er ist erschöpft vom Krieg, vom Schlafen unter Plastikplanen neben sechs Männern, vom Gestank des überfüllten Zeltlagers ohne Sanitäranlagen und von der Kälte in der Nacht.

Der Winter ist in Gaza angekommen: Die Temperaturen fallen in der Nacht laut Onlinewetterdiensten nunmehr bis auf sieben Grad Celsius. Für Menschen, die ohne Decken, warme Kleidung und Holz unter dünnen Plastikplanen oder Holzstücken hausen, heißt das frierende Nächte. Heftige Winde haben vergangenes Wochenende zahlreiche der "Zelte" zerstört. Laut Berichten verbrennen Menschen alles Mögliche, auch Plastik, um sich aufzuwärmen. Auch wenn der Rauch in der Lunge brennt.

"Wir gehen jeden Abend früh schlafen, damit wir nicht so lange frieren müssen", sagt Abualqumboz. Lange werde er das nicht mehr durchhalten. Inzwischen komme zwar mehr humanitäre Hilfe in dem Lager an: pro Familie, egal wie groß, etwas Mehl, ein paar Lebensmitteldosen und Wasser. Alles andere, wie Holz für Feuerstellen oder Gemüse, müsse man zu unerschwinglichen Preisen erstehen. Auch gestohlene humanitäre Güter würden am Schwarzmarkt teuer verkauft. Lange werde sein Geld nicht mehr reichen. Abualqumboz und seine Familie sind am ersten Tag des Krieges – dem 7. Oktober – aus ihrem Zuhause im Norden unweit der israelischen Grenze geflohen. Ihm sei sofort klar gewesen, dass auch dieser Krieg, wie frühere, für Zivilisten blutig werden würde. "Wir haben in der Eile nur das Nötigste mitgenommen", sagt Abualqumboz, der erst nach Gaza-Stadt floh. Als Israel dann zur Evakuierung in den Süden aufrief, flüchtete die Familie nach Khan Younis.

Von Träumen und Trümmern

Abualqumboz tut sich hörbar schwer, die vergangenen Monate wiederzugeben. Immer wieder unterbricht er seine Erzählung mit tiefen Seufzern. "Ich bin einfach nur stolz, dass wir überlebt haben", sagt er. "Doch sonst ist alles kaputt."

Der Ingenieur, der bis vor kurzem noch in Großbritannien studiert und gearbeitet hat, war gerade zu Besuch in Gaza, als der Krieg ausbrach. Seither habe er Job und Aufenthaltstitel verloren. "Ich habe Angst zu sterben, noch bevor mein Leben eigentlich begonnen hat", sagt er. "Ich wollte eine Familie gründen, Vater werden und in einem Haus voller Erinnerungen leben." Nun liege alles in Trümmern, außer der Hoffnung, seinen Traum eines Tages doch noch verwirklichen zu können. Er wünscht sich endlich nachhaltigen Frieden und ein Leben in Würde für alle in der Region – auch Palästinenser.

Geflüchtete backt Brot auf offener Feuerstelle in ihrem Zelt. 
Unzählige Palästinenser schlafen unter dünnen Plastikplanen.
AFP/-

Weiter in den Süden zu fliehen ist für Abualqumboz keine Option: Andere Flüchtlingslager seien heillos überfüllt, zudem sei man in Gaza nirgendwo sicher. Eine Flucht aus dem Küstenstreifen ist bisher nur wenigen möglich gewesen – etwa Menschen mit ausländischem Pass oder dringlichem medizinischen Bedarf. Zuletzt mehrten sich jedoch Berichte, wonach man für teures Geld – konkret mehrere Tausend Euro – auf Evakuierungslisten landen könne. Abualqumboz’ Bruder Muath, der seit 2019 in Österreich studiert und seit mehr als 100 Tagen um das Leben seiner Geschwister, Nichten und Neffen bangt, will nichts unversucht lassen und hat eine Spendenkampagne auf der Plattform Gofundme gestartet, um sie in Sicherheit zu bringen.

Die Hoffnung auf ein Ende der Gewalt und der Misere oder darauf, ihnen entfliehen zu können, haben im Gazastreifen viele. Die meisten der 1,9 Millionen Geflüchteten haben sich in Rafah niedergelassen: In der Stadt an der ägyptischen Grenze mit früher 280.000 Einwohnern befinden sich heute, nach dreieinhalb Monaten Krieg, eineinhalb Millionen Menschen. Jeden Tag kommen laut MSF weitere Geflüchtete in die um den Stadtkern und ein Uno-Lagerhaus expandierende Zeltstadt.

Rafah
In der Grenzstadt Rafah lebten vor dem Krieg 280.000 Menschen – nun sind es 1,5 Millionen.
AFP/-

Einer von ihnen ist Mohammed Bakir, der sein Zuhause in Al-Maghazi im Zentrum des Gazastreifens verloren hat. Seit Kriegsbeginn musste der 24-Jährige fünfmal den Ort wechseln, seit Dezember harrt er in Rafah in einem Zelt aus, wo mittlerweile mehr oder weniger jede freie Fläche besetzt ist. Doch auch hier fühlt er sich nicht sicher. "Bei den Kindern verbreiten sich Krankheiten, das Trinkwasser ist verschmutzt", schreibt er. Auch sein größter Wunsch ist es, Gaza zu verlassen: "Ich sehne mich nach einem Leben in Freiheit und Menschenwürde." Eine solche Zerstörung habe er noch nie erlebt, er hat zahlreiche Angehörige verloren, unter anderem seine Tante und ihre gesamte Familie. "Wir haben so viel gelitten."

Kommunikation unterbrochen

Bakirs Schilderungen, wie auch jene von Cans und Abualqumboz, erreichen den STANDARD per Audiobotschaft und Whatsapp-Nachricht. Und das nur unregelmäßig. Denn über eine Woche lang war das Telekomnetz im Gazastreifen zum neunten Mal seit dem 7. Oktober fast gänzlich außer Funktion, so lange wie in diesem Krieg bisher noch nie. Das bestätigte auch die Plattform Netblocks. Israel hat sich dazu nicht geäußert. Telefonate, auch via Internet, waren kaum möglich. Nachrichten ließen sich nur vereinzelt verschicken. Erst am Freitagabend wurde gemeldet, dass Telekom- und Internetverbindungen langsam wiederhergestellt werden. Der fast totale Blackout hat die Lage verschärft: Auch Hilferufe sind dann teilweise nicht möglich, warnte jüngst der Rote Halbmond.

Nach Tagen der Stille schreibt Bakir am Donnerstag, dass er von morgens bis abends damit beschäftigt sei, Trinkwasser zu besorgen. Zuvor hat er berichtet, dass es in Rafah kaum Essen gebe. Auf den Märkten im Süden sind nur wenig Nahrungsmittel verfügbar, bestätigt Hiba Tibi, stellvertretende Care-Regionaldirektorin für den Nahen Osten und Nordafrika, dem STANDARD. "Nur sehr geringe Mengen, weil alles aufgebraucht ist", führt sie via Skype aus der jordanischen Hauptstadt Amman aus. Doch im Norden Gazas sei es um ein Vielfaches schlimmer. Rund 300.000 Menschen sollen sich laut Schätzungen dort noch aufhalten, viele sind aus dem Süden zurückgekehrt, weil sie sich dort nicht sicher gefühlt haben. Dort haben sie zumindest ihr eigenes Zuhause – sofern es noch steht. Doch Hilfslieferungen kommen dort so gut wie gar nicht durch.

Hilfsorganisationen warnen schon seit Wochen vor einer Hungersnot. Nach Angaben des Welternährungsprogramms sind etwa 700.000 Menschen weltweit von akutem, katastrophalem Hunger betroffen, davon 577.000 in Gaza. Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung leiden den UN zufolge unter "akuter Ernährungsunsicherheit", praktisch alle Haushalte lassen jeden Tag Mahlzeiten aus. Nach UN-Angaben hat die Menge an Hilfsgütern zwar allmählich zugenommen: Im Oktober kamen täglich rund 20 Lastwagen, im November 85 und im Dezember 104. Das ist jedoch immer noch weit weniger als die 500 Lastwagen pro Tag vor Ausbruch des jüngsten Krieges – die auch damals schon den Bedarf nicht gedeckt haben.

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hilfsorganisation Care in Gaza, die bereits in zahlreichen Konfliktgebieten aktiv waren, berichten ihr von einer Situation, die sie noch nie zuvor erlebt haben. Die Zerstörung der Infrastruktur, die Vertreibungen, die viel zu geringe humanitäre Hilfe: "Das ist einzigartig", so Hiba Tibi. Jede Person in Gaza brauche Hilfe. "Jede einzelne. Nahrung, Wasser, Unterkünfte, medizinische Versorgung, warme Kleidung – es herrscht Mangel an allem." Care verteilt vor Ort derzeit neben Hygieneartikeln vor allem Winterpakete, darunter Thermodecken oder warme Kleidung. Doch es reicht bei weitem nicht aus.

Fünf palästinensische Care-Mitarbeiter, die in Gaza mit rund 300 Menschen aus Partnerorganisationen zusammenarbeiten, befinden sich mittlerweile in oder rund um Rafah. In den ersten Tagen des Krieges seien sie nicht an der Verteilung von Hilfsgütern beteiligt gewesen. Ihre Häuser seien zerstört, Angehörige getötet worden, sie mussten sich selbst in Sicherheit bringen, erzählt Tibi. "Zum ersten Mal befinden sich meine eigenen Kollegen unter denen, die in Not sind." Die 16-jährige Tochter einer Mitarbeiterin habe zu Kriegsbeginn zu sprechen aufgehört. Ein anderer Mitarbeiter habe ein zweijähriges Kind und immer wieder Probleme Wasser für Milchpulver zu bekommen.

Kaiserschnitte ohne Narkose

Auch die lokalen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen (MSF), insgesamt etwa 300, können nicht ausreisen – im Gegensatz zu den etwa zehn internationalen Kollegen vor Ort, die alle paar Wochen ausgewechselt werden. In fünf der 13 zumindest teilweise funktionstüchtigen Krankenhäuser seien MSF-Mitarbeiter aktiv – von insgesamt 36 einst funktionierenden Spitälern. Dort gebe es nicht nur zu wenig medizinisches Personal, sondern auch zu wenig Medikamente, vor allem mangele es an Schmerz- und Betäubungsmitteln, erzählt Laura Leyser, Geschäftsführerin von Ärzte ohne Grenzen in Österreich. Medizinische Eingriffe würden ohne Narkose durchgeführt werden, teilweise auch bei Kindern. Hiba Tibi von Care erzählt auch von Kaiserschnittoperationen ohne jegliche Betäubung. Unicef-Angaben zufolge müssten Betroffene das Krankenhaus bereits wenige Stunden später wieder verlassen, weil die Einrichtungen so überfüllt sind.

Geschichten wie jene der achtjährigen Miriam seien keine Ausnahmen, sondern gang und gäbe, sagt Leyser von MSF. "Eigentlich ist das Gesundheitssystem komplett zusammengebrochen." Ein mexikanischer Arzt, der vor kurzem aus dem Gazastreifen zurückgekehrt sei, habe von 20 bis 25 Operationen täglich erzählt, vor allem an Kindern, die Gliedmaßen verloren hätten. Viele von ihnen hätten keine überlebenden Angehörigen mehr – dieses besonders tragische Schicksal wird unter dem Akronym WCNSF zusammengefasst: "wounded child, no surviving family". "Selbst wenn diese Kinder überleben und die körperlichen Wunden irgendwann heilen – sie sind komplett allein und können nirgendwohin", sagt Leyser.

Schon bei der Akutversorgung käme das medizinische Personal derzeit nicht nach – was für weniger akute Fälle lebensbedrohlich sei. "Die Menschen sterben nicht nur aufgrund der direkten Folgen der Bombardierungen und der Gewalt, sondern auch wegen nicht gut versorgter Wunden", sagt Leyser. Auch Medikamente, die Menschen mit Diabetes, Bluthochdruck oder Epilepsie brauchen, gebe es derzeit nicht. Und immer öfter bedeuten auch Erkältungen oder Durchfallerkrankungen Lebensgefahr.

All das schmälere "in keiner Weise" das Leid, das durch den Hamas-Angriff am 7. Oktober in Israel verursacht worden sei, betont Leyser. "Man kann aber nicht das eine Leid gegen das andere aufwiegen. Man muss trotzdem darüber reden dürfen, was da gerade passiert." (Flora Mory, Noura Maan, 20.1.2024)