Weißstorch im Schnee
Ein Weißstorch stapft durch den Schnee. Bei gänzlich geschlossener Schneedecke kann es für die Vögel in unseren Breiten herausfordernd werden, Futter zu finden. Generell verändern sich die Gegebenheiten aber zugunsten der ungewöhnlichen Wintergäste.
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Die berüchtigte Invasorin ist klein und mit ihrem Streifenmuster eigentlich recht hübsch anzusehen. Wie im vergangenen Sommer wird sie wohl auch im heurigen Schlagzeilen machen, denn am Bodensee ist die eingeschleppte Quagga-Muschel zum Enfant terrible der Wasserwelt aufgestiegen. Als hochinvasive Art, die erstmals 2016 im Bodensee nachgewiesen wurde, tritt sie nunmehr in Massen in dem Gewässer auf.

"Momentan sieht es so aus, als ob die Wasservögel zur Reduktion der Quagga-Muschel fehlen", sagt Wolfgang Fiedler. Der Biologe am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfzell erforscht Vogelwanderungen und die mit ihnen verbundenen Konsequenzen für Vögel und Umwelt. So weiß er auch, wie die Ausbreitung der Mollusken mit dem Zugvogelverhalten zusammenhängt. Denn durch milder werdende Winter suchen immer weniger Tauchenten, etwa Reiher- und Tafelente, den See zum Überwintern auf. Überwinterungszahlen der Tiere aus weiter nördlich liegenden Gebieten zeigen, dass ihr vermehrtes Ausbleiben nicht auf geschrumpfte Populationszahlen zurückzuführen ist.

Quagga-Muschel
Im Kampf gegen die invasive Quagga-Muschel könnten am Bodensee hungrige Wasservögel helfen. Doch die ziehenden Arten unter ihnen - etwa Reiherenten - kommen in den vergangenen Jahren in reduzierter Zahl an den See.
U.S. Fish & Wildlife Service / PhotoResearchers / picturedesk.com

"Die Vögel müssen schlichtweg nicht mehr im früheren Ausmaß bis an den Bodensee ziehen", erklärt Fiedler. Zugleich wachse die Quagga-Muschel den Kläranlagen und Wasserversorgern an dem Gewässer über den Kopf. Sie setzt sich in Röhren an, bis diese verstopfen, verursacht immensen Reinigungsaufwand und verändert auch den Nährstoffgehalt und das Arteninventar im Wasser. Schon vor einigen Jahrzehnten kämpfte man am Bodensee mit der eingeschleppten Dreikantmuschel. "Hunderttausende überwinternde Wasservögel haben sie schon nach wenigen Jahren durch starken Fraßdruck ziemlich gut in den Griff bekommen", erinnert sich Fiedler. Inzwischen bleiben die gefiederten Mitstreiter im Kampf gegen die Bioinvasoren aber oft aus.

Veränderter Flugverkehr

Der Vogelzug hat sich über Jahrtausende hinweg in der Natur etabliert – doch heute deuten immer mehr Belege auf einen mitunter tiefgreifenden Wandel in diesem Modus hin. Manche Arten ändern ihre Flugrouten und Winterdestinationen, andere verschieben den Zeitpunkt von Ab- und Rückflug, während sich wieder andere die Reise in den Süden gänzlich sparen und auch die kalte Jahreszeit in ihren Sommerquartieren verbringen. Wissenschafterinnen und Wissenschafter zeigen sich ob dieser Verhaltensänderungen erstaunt wie besorgt.

Vogelzug
Kraniche verbringen den Winter zunehmend auf der iberischen Halbinsel, anstatt weiter in Richtung Süden zu ziehen.
IMAGO/Andreas Franke

Einer von ihnen ist der ehemalige Direktor des Smithsonian Migratory Bird Center in Washington, D.C. und heutige Dekan an der Georgetown University Peter Marra. Erst kürzlich untersuchte er mit einem Forschungsteam, wie sich die Auswahl der Brutgebiete von Zugvögeln auf dem amerikanischen Kontinent ändert. "Wir haben herausgefunden, dass sich die Brutgebiete weiter in den Süden statt in den Norden verschieben, was auf klimatische Veränderungen in den Tropen zurückzuführen ist", verrät er über die noch nicht veröffentlichten Ergebnisse. Und: Exemplare, die nach einem trockenen Winter in tropischen Gefilden weiter nach Norden ziehen, sterben mit größerer Wahrscheinlichkeit als ihre Artgenossen, die in südlicheren Regionen bleiben.

Kampf um Ressourcen

Die Ursachen für den Zusammenhang von Ortswahl und Überlebenschance gilt es – wie vieles im sich wandelnden Migrationsverhalten – weiter zu erforschen. Interessiert man sich für Beispiele veränderter Flugrouten, wird man auch in Asien fündig. Der Spornpieper ist ein schlanker Singvogel, der normalerweise in Sibirien brütet und in Südostasien überwintert. 2021 war er Gegenstand einer im Journal "Current Biology" publizierten Studie, die seine Zugmuster analysierte. Wie sich herausstellte, wandern die Vögel zusehends auf einer Ost-West-Achse, anstatt nach Süden zu ziehen.

Eine Analyse von Vogelbeobachtungsdaten aus 50 Jahren zeigte, dass einige transsaharische Zugvögel weniger Zeit in ihren afrikanischen Winterquartieren und mehr Zeit in den europäischen Brutgebieten verbringen. Hier finden sie zusehends das ganze Jahr über Futter und geeignete Lebensräume. Setzt sich dieses Muster fort, müssen Vögel unter Umständen gar nicht mehr in Afrika überwintern, schließen die Forschenden im Journal "Global Change Biology". Das könne Zug- und Standvögel in einen verstärkten Wettbewerb zwingen.

Storch im verschneiten Horst.
Schon Anfang Februar bezog dieser Storch seine Bleibe im deutschen Belitz. In dem kleinen Ort kommen die Vögel seit Jahren immer auffällig früh an und gehören zu den ersten Rückkehrern ihrer Art in ganz Deutschland.
imago/BildFunkMV

Vorteile für Sitzenbleiber

Das ungleiche Rennen um Ressourcen ist eine der am besten belegten Folgen neuer Migrationsmodi. So ist bekannt, dass Kraniche den Winter zunehmend in Korkeichenwäldern der Iberischen Halbinsel verbringen und Mönchsgrasmücken in urbanen Räumen Europas bleiben, anstatt den Tropen entgegenzufliegen. In Österreich sorgt als Sitzenbleiber besonders der Weißstorch für Aufsehen. Vom Rheintal bis nach Rust am Ufer des Neusiedler Sees begegnet man Exemplaren, die den Flug nach Afrika aussetzen. Diese Sesshaftigkeit kann Vorteile gegenüber jenen verschaffen, die noch wegziehen.

Einerseits sparen sich Vögel, die im Sommerquartier bleiben, die Energie, die der lange Flug in den Süden fordert. Andererseits sind sie im Frühjahr bereits in den Sommerbrutgebieten, können die besten Nistplätze besetzen und sich an reichen Futtergründen laben. Später kommende Vertreter auch anderer Arten haben dann das Nachsehen. All diese Änderungen beeinflussen aber nicht nur die Tiere selbst.

Fehlen im System

Zugvögel sind Teil empfindlich austarierter Ökosysteme, in denen sowohl ihre verlängerte Anwesenheit als auch ihr Fehlen Folgen hat. "Wie weitreichend die Konsequenzen dieses Wandels sind, ist sehr schwer aufzuzeigen", sagt Richard Zink, Leiter die Außenstelle Seebarn der Österreichischen Vogelwarte. Wie der Forscher der Vetmed-Uni Wien erklärt, sind Beweise für die ökologischen Dienstleistungen einer Art schwer zu führen. Das liegt daran, dass viele Arten zigtausende Kilometer unterwegs sind und sich ökologische Effekte großräumig schlecht dokumentieren lassen.

Illustration Vögel
Die Trias der Veränderung in der Zugvogelwelt: Zielort und Flugroute ändern, den Zeitpunkt von Ab- und Rückflug verschieben oder den Flug in den Süden gänzlich aussetzen.
Illustration: Fatih Aydogdu

Handfestes ist auch Wolfgang Vogl nicht bekannt, ein wenig Spekulation sei aber möglich, schreibt der Leiter der Beringungszentrale der Vogelwarte der Veterinärmedizinischen Universität Wien auf Anfrage. So sei bekannt, dass Weißstörche in Afrika keine fixen Winterreviere haben, sondern sich entsprechend der Nahrungsverfügbarkeit großräumig bewegen. Sie ziehen etwa Wanderheuschrecken-Schwärmen hinterher, was auch lokale Vögel tun – Letztere aber anscheinend in geringerem Umfang. Daher bestehe die Möglichkeit, dass gerade Überwinterer eine Rolle bei der biologischen "Schädlingsbekämpfung" spielen. "Unseres Wissens wurde das aber noch nie richtig untersucht", fügt er an.

Destabilisiertes Räderwerk

Bisher macht das klimabedingte Ausbleiben von Zugvögeln, gemessen an der Gesamtzahl ziehender Individuen, einen kleinen Teil aus. Hinzu kommen jedoch etliche andere Änderungen von Umwelteinflüssen, die das Verhalten von Vögeln beeinflussen. Die Ursachen für verschobene, veränderte oder ausgesetzte Langstreckenflüge lassen sich Experten zufolge daher kaum klar trennen. Verstärktes Monitoring sieht Marra als Schlüssel zum breiteren Verständnis. "Wenn Spezies nicht mehr ziehen, wird das in den Tropen Veränderungen bedeuten", sagt er. Um diese aber benennen zu können, brauche es mehr Daten.

Kraniche
Welche Folgen es hat, wenn Zugvögel ihre Winterquartiere in reduziertem Umfang oder gar nicht mehr aufsuchen, ist schwer zu benennen. Forschende plädieren für verstärktes Monitoring, um mehr Daten zur Verfügung zu haben.
IMAGO/Andreas Franke

Doch zu welchen Problemen kann es führen, wenn einzelne Zugvogelarten ihre Lebensweise umstellen? "Ein intaktes Ökosystem verkraftet solche Veränderungen", sagt Zink. Wie bei einem Räderwerk greifen viele Zahnräder ineinander, manche laufen parallel, fällt ein Zahnrad aus, kann das andere übernehmen. Auch im Vogelreich existieren viele parallel geschaltete Prozesse, um das System auszutarieren – etwa um die Zahl vorhandener Insekten zu regulieren. Durch viele Parallelitäten kann ein System Ausfälle eher abfangen.

Veränderte Zugmuster destabilisieren das System jedoch weiter. "In der Evolution gab es immer Veränderungen – aber aktuell können wir jeden Tag über Veränderungen berichten", sagt Zink. Es seien Phänomene im Zuge der Klima- und Lebensraumveränderung sowie der zunehmenden Weltbevölkerung, die schneller vorangingen, als es die Wissenschaft für möglich gehalten hätte. "Diese Geschwindigkeit bereitet uns Kopfzerbrechen", sagt der Forscher. (18.1.2024, Marlene Erhart)