Blanchard im grauen Pullover am Mikrofon
Gypsy Rose Blanchard während ihres Prozesses vor Gericht.
AP

Auf den ersten Blick ist an dem Video nichts außergewöhnlich. Eine junge Frau sitzt auf einer Veranda und spricht in die Handykamera. Sie kündigt ihre neuesten Projekte an: Ein E-Book und eine Fernsehserie stehen kurz vor der Veröffentlichung. Das Video hat 2,4 Millionen Likes, die Kommentare sind voller Komplimente für Maniküre und Make-up der jungen Frau. Doch es ist keine beliebige Influencerin, sondern Gypsy Rose Blanchard, die gerade eine mehrjährige Haftstrafe für Totschlag hinter sich gebracht hat.

Blanchard kommt im Sommer 1991 als gesundes Baby zur Welt. Doch ihre Mutter Claudine, genannt Dee Dee, leidet am Münchhausen-Stellvertretersyndrom. Dabei täuschen meist Mütter Krankheiten ihrer Kinder vor, um sich als leidgeprüft und liebevoll inszenieren zu können. Schon in den ersten Lebenstagen ihrer Tochter beginnt Dee Dee, bei ihr angebliche Krankheitssymptome festzustellen. Bald leidet das Kind in ihren Augen an Leukämie, Asthma, Muskeldystrophie und weiteren chronischen Krankheiten. Zudem sei Gypsy Rose wegen einer angeblichen Hirnverletzung geistig eingeschränkt. Sie besucht nie eine Schule, nutzt einen Rollstuhl und wird über eine Sonde ernährt. Regelmäßig rasiert Dee Dee ihr das Haar ab, um die Auswirkungen einer Chemotherapie vorzutäuschen.

Mutter und Tochter ziehen häufig um. Dee Dee Blanchard fälscht medizinische Dokumente und Geburtsurkunden, gibt sich selbst einen neuen Namen und zwingt ihre Tochter, sich als jünger auszugeben, als sie ist. Sie muss Medikamente nehmen und wird mehrfach unnötigen Operationen unterzogen. Gypsy Rose, in der Parallelwelt ihrer Mutter aufgewachsen, glaubt, tatsächlich krank zu sein. Doch sie weiß, dass sie gehen kann und entgegen den Behauptungen ihrer Mutter nicht auf dem Entwicklungsstand eines Kindes ist. Lässt sie sich das anmerken, wird sie geschlagen.

Anstiftung zum Mord

Als Jugendliche beginnt Gypsy Rose, sich gegen ihre Mutter aufzulehnen. Doch Versuche, aus dem Haus zu entkommen, scheitern wiederholt. Das Internet wird ihr Zufluchtsort. Hier lernt Gypsy Rose einen Mann namens Nicholas Godejohn kennen. Er ist vorbestraft und psychisch krank, doch zwischen den beiden entspinnt sich eine virtuelle Liebesbeziehung. Nach mehreren Jahren bittet Gypsy Rose ihn, ihre Mutter zu töten.

Im Juni 2015 lässt sie ihn in das Haus, das sie mit ihrer Mutter bewohnt. Sie gibt ihm die Tatwaffe und versteckt sich im Badezimmer, während Godejohn Dee Dee Blanchard ermordet. Es dauert mehrere Tage, bis besorgte Nachbarn die Polizei alarmieren. Die Ermittler gehen zunächst davon aus, dass Gypsy Rose entführt wurde – bis sie schließlich gemeinsam mit Godejohn in dessen Haus in Wisconsin gefasst wird. Im Sommer 2016 verurteilt ein Gericht Gypsy Rose Blanchard wegen Totschlags zu einer Haftstrafe von zehn Jahren. Godejohn muss lebenslänglich in Haft.

Liveschaltung aus dem Gefängnis

Der Fall fasziniert die Öffentlichkeit. Kein Jahr nach Gypsy Roses Haftantritt wird die Dokumentation "Mommy Dead and Dearest" ausgestrahlt, für die die damals 25-Jährige interviewt wird. Es folgen dutzende Interviews und Liveschaltungen aus dem Gefängnis, TV-Sendungen und eine preisgekrönte True-Crime-Serie. Gypsy Rose Blanchard wird Kult.

Nacht acht Jahren wird ihr eine vorzeitige Entlassung zugestanden. Auf Social Media mehren sich humoristische Countdowns. In einem Video heben sich rasselnd die Gitterstäbe vor einem Kinderfoto Blanchards, das sie mit abrasiertem Haar und Krönchen zeigt. Als sie am 28. Dezember 2023 die Haftanstalt verlässt, warten bereits Paparazzi auf sie. Die Fotos machen die Runde, bis am nächsten Tag plötzlich ein Instagram-Account aufpoppt. "Erstes Selfie in Freiheit!", schreibt Blanchard unter ein Foto, das sie lächelnd im weiß-blauen Pullover zeigt. Mehr als sechs Millionen Menschen liken das Bild. In den Kommentaren wird sie gefeiert wie ein Popstar. "Die Königin ist zurück", heißt es da. Andere informieren Blanchard über die Entwicklungen, die sie während ihrer Haft verpasst hat: "Keine Sorge, von Rihanna ist noch immer kein neues Album erschienen."

Blanchard im schwarzen Spitzenkleid
Blanchard am roten Teppich bei der Premiere einer Serie über ihr Leben –eine Woche nach ihrer Haftentlassung.
APA/Getty Images via AFP/GETTY IMAGES/JAMIE MCCARTHY

Blanchard ist ein Phänomen. Ihr Fall ist beklemmend und außergewöhnlich, perfekt für die mediale True-Crime-Maschinerie. Durch Serien und Dokumentationen entsteht eine gefühlte Nähe zu Blanchard, an die ihr Social-Media-Auftritt nahtlos anschließt. Sie postet Selfies, Kussfotos mit ihrem neuen Partner, den sie während der Haft geheiratet hat, und bewirbt eine neue Serie und ein E-Book über ihr Leben. Doch dabei überholt ihr neuer Kultstatus sie immer wieder.

Beinah jeden Tag seit ihrer Entlassung ist sie in Talkshows zu sehen. Blanchard möchte über psychische Krankheiten aufklären und anderen Missbrauchsopfern zeigen, dass es auch gewaltfreie Wege aus unerträglichen Situationen gibt. "Du bist nicht alleine", sagt sie in der Fernsehsendung "The View" in die Kamera. "Es gibt andere Auswege, und ich habe den falschen Weg gewählt." "Sag das nicht", fällt ihr die Moderatorin Joy Behar ins Wort, "du hattest keine andere Wahl!" Blanchard sieht sie irritiert an. Dann antwortet sie: "Doch, ich habe etwas Falsches getan und meine Strafe verbüßt." Und nach einer Pause: "Mord ist falsch, Joy." (Ricarda Opis, 19.1.2024)