Sprühen von Pestiziden.
In der Landwirtschaft kommen zum Schutz vor Pflanzenschädlingen weltweit noch immer enorme Mengen an Pestiziden zum Einsatz. Im EU-Projekt React tüfteln 17 Forschungsgruppen an der Entwicklung umweltschonender Methoden zur Bekämpfung invasiver Fruchtfliegen.
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Im EU-Projekt React ist der Name Programm: Es geht um die schnelle Reaktion auf neue invasive Schädlinge in der Landwirtschaft. Das soll mit der Sterile-Insekten-Technik (SIT) gelingen. Die seit rund 70 Jahren eingesetzte Methode kann die chemische Keule ersetzen, erklärt Projektkoordinator Marc Schetelig, Professor an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Dazu werden sterile Insektenmännchen im befallenen Gebiet freigelassen. Sie paaren sich zwar, können sich aber nicht fortpflanzen, was die Schädlingsbestände reduziert und Ernten retten kann.

STANDARD: Was sind die Vorteile der Sterile-Insekten-Technik?

Schetelig: Es braucht überhaupt keine Chemie, die Technik kann gerade auch bei ganz kleiner Populationsdichte eingesetzt werden, denn die freigelassenen Männchen finden die Weibchen. Wenn Sie hingegen Pestizide versprühen, müssen Sie genau wissen, wo Sie sprühen, ansonsten funktioniert das nicht.

STANDARD: Welche Ziele stehen im EU-Projekt React im Mittelpunkt?

Schetelig: Unser Ziel ist es einmal, eine komplette Strategie zu entwickeln, um die SIT kleiner zu machen und schneller. Außerdem überlegen wir mobile Zuchtlabore und wie wir sie schnell mit allem Equipment aufbauen können, um die benötigte Menge an Fliegen herstellen, sterilisieren und freilassen zu können.

STANDARD: Warum ist Geschwindigkeit so zentral?

Schetelig: Wenn Sie in Wien etwa die Bactrocera oder eine andere Fruchtfliege gefunden haben, wollen Sie nicht noch sechs Monate Entwicklungsarbeit machen, das bringt den Bauern nichts. Wir müssen Schädlinge schnell finden und schnell darauf reagieren können. Am Schluss wollen wir auch ein Protokoll haben, in dem steht, wie bei welchem Befall vorzugehen ist.

STANDARD: Was braucht es für die Umsetzung dieser Vorsorge?

Schetelig: Invasiv bedeutet, dass die Arten irgendwann erst zu uns kommen und wir aktuell noch kein Problem mit ihnen haben. Was wir also unbedingt brauchen, ist der Fliegenstamm, den wir züchten möchten. Zusätzlich brauchen wir Sexing-Stämme, bei denen wir Weibchen von Männchen trennen können. Lässt man nur Männchen frei, ist das fünfmal effektiver, als beide freizulassen. Solche Stämme entwickeln wir im React-Programm, um sie im Ernstfall zu haben und dann schnell reagieren zu können.

STANDARD: Wo ist SIT schon im Einsatz?

Schetelig: In Valencia wird die ganze Zitrusproduktion auf rund 140.000 Hektar damit schadfrei gehalten. In der dortigen Facility werden 600 Millionen Fruchtfliegen pro Woche hergestellt und freigelassen. Es werden praktisch keine Insektizide mehr verwendet. Der Befall ist dort so niedrig, weil man durch kontinuierliche Freilassungen auch präventiv arbeitet.

Illustration Sterile-Insekten-Technik
Auf einer Fläche von 140.000 Hektar gedeihen im spanischen Valencia Zitrusfrüchte. Die Haine werden mittels Sterile-Insekten-Technik frei von Schädlingen gehalten.
Illustration: Fatih Aydogdu

STANDARD: Wird immer in so großen Dimensionen gearbeitet?

Schetelig: Die größte Massenzuchtanlage der Welt in Guatemala kann vier Milliarden Fliegen pro Woche herstellen. Das sind zwischen 15 und 20 Tonnen Fliegen, und das sind nur die Männchen. Ich war schon mal dort, es ist wie eine kleine Stadt. Aber wir möchten eine kleinere Version davon. Es muss am Ende des Tages auch in kleinem Maßstab kosteneffizient sein, ansonsten wird es nicht eingesetzt.

STANDARD: Welche Technik wird zur Sterilisation genutzt?

Schetelig: Große Einrichtungen verwenden Gammastrahler. Einige haben schon auf Röntgenstrahlung umgestellt, da die Geräte einfacher zu bekommen sind und es nicht so viel Regulation gibt. Das sind die zwei angewandten Verfahren.

STANDARD: Ist es rechtlich überall erlaubt, diese Individuen freizulassen?

Schetelig: Dies ist möglich und wird seit Jahrzehnten erfolgreich mit Nicht-GVO-Stämmen durchgeführt. In Zukunft können Fliegenstämme entweder als gentechnisch veränderte Organismen (GVO) oder weiterhin durch Nicht-GVO-Methoden erzeugt werden. Die Nicht-GVO-Techniken, die Chemikalien oder Strahlung verwenden, sind komplexer und verursachen auch umfangreiche genetische Veränderungen. Die Verwendung von Strahlung bewirkt lediglich die Sterilisation der Fliegen, führt aber nicht zur Freisetzung der Strahlung in die Umwelt.

Sortiervorgang Orangen
In und um Valencia boomt der Handel mit Zitrusfrüchten. In der Region werden dank des Einsatzes der Sterile-Insekten-Technik kaum noch chemische Pflanzenschutzmittel verwendet.
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STANDARD: GVO polarisieren meist stark. Wie nehmen Sie das wahr?

Schetelig: Ich bin kein Verfechter der Gentechnik, aber die generelle Ablehnung finde ich schade. An jedem Phänotyp, an allem, was wir ändern für unsere Züchtung, gibt es immer genetische Veränderungen, ob das durch die Sonne passiert oder durch jahrelange Selektion. Für mich ist eigentlich alles eine genetische Veränderung, aber es ist schwierig für jemanden, der nicht in der Thematik ist, das alles zu überblicken. Ich finde bedauerlich, dass es keine bessere Aufklärung gibt, die etwas offener darüber spricht. Denn wir haben verschiedenste Systeme, die schon 20 Jahre praktisch im Feld getestet sind, die keinerlei Nebenwirkungen gebracht haben. Ich bin ein Freund des besten Systems, egal was es ist.

STANDARD: Gibt es Missverständnisse Ihr Forschungsfeld betreffend?

Schetelig: Die Aussage "Da wird mit Strahlung gearbeitet, und dann ist die überall in unserer Umwelt" höre ich öfter. Aber das war noch nie so, genau deshalb ist die SIT die umweltfreundlichste Methode, die es gibt, weil sie nur etwas freilässt, das sich nicht paaren kann. Davor gibt es auch oft Angst, dass man etwas Fremdes in die Umwelt freilässt, das sich dann verbreitet. Das ist gerade bei der SIT nicht so, weil die Tiere steril sind und nichts weitergegeben wird. Die SIT ist wirklich sehr sicher.

Marc Schetelig
React-Projektkoordinator Marc Schetelig forscht zu molekularer Biokontrolle und umweltfreundlichen Methoden zur Bekämpfung invasiver Obstschädlinge.
JLU / Rolf K. Wegst

STANDARD: Es ist ausgeschlossen, dass es im Ökosystem zu negativen Folgen oder Kettenreaktionen kommt?

Schetelig: Es ist ja so, dass wir eine Fruchtfliege eingeschleppt kriegen – meistens durch den Menschen selbst –, die nicht ins Ökosystem gehört. Wir machen im Ökosystem also nichts kaputt, sondern helfen ihm, wenn es sich um invasive Arten handelt. Die komplette, großflächige Ausrottung einer Fliege kriegen wir sowieso nicht hin, wenn sie sich einmal etabliert hat. Das geht auf Inseln, aber sonst ist das utopisch. Uns geht es darum, Schädlinge unter eine bestimmte Schwelle zu bringen, dann können Bauern auch damit leben und arbeiten. Wir reden vom Ökosystem Landwirtschaft, da gehört die Fliege nicht hin. Woanders wird sie trotzdem sein, weil sie da nicht bekämpft wird.

STANDARD: Spielen klimatische Veränderungen dabei mit, dass sich gebietsfremde Schädlinge bei uns ausbreiten?

Schetelig: Der Klimawandel spielt eine Rolle, aber nicht primär dabei, dass die Tiere zu uns kommen. Das passiert durch den Menschen selbst, durch global vertriebene Produkte oder Reisende, die alles Mögliche aus anderen Ländern mitnehmen. Eine Fliege fliegt nicht tausende Kilometer irgendwohin, die Verbreitung passiert eher durch die schiere Menge an Nachkommen, die sie hat. Ein Weibchen der Mittelmeerfruchtfliege hat bis zu 600 Nachkommen, und wir haben ein paar Millionen adulter Tiere im Feld. Die bewegen sich selbst nicht viel, aber die neuen Generationen breiten sich immer weiter aus. Wenn das Zeitfenster größer ist, in dem sie das tun können, werden die Population und damit auch die Probleme schnell größer.

STANDARD: Mit dem Klimawandel verschieben sich die Aktivitätsgrenzen mancher gefährlicher Krankheitserreger. Gibt es bedenkliche Arten, bei denen der Einsatz von SIT möglich ist?

Schetelig: React widmet sich der Landwirtschaft, aber in unserem Labor arbeiten wir auch an Moskitos und der SIT. Moskitos wie die Asiatische Tigermücke, Aedes albopictus, haben sich zuletzt nicht nur hier angesiedelt, sondern überwintern bereits und kommen im Frühjahr – oder bei Hochwasser – wieder raus. Wenn wir jetzt noch überlegen, dass es wärmer wird, die Sommer länger werden und die Zahl der Reproduktionszyklen steigt, dann kommt noch etwas auf uns zu, das wir auf jeden Fall umweltfreundlicher mit der SIT bekämpfen können. Das Problem ist, dass für die meisten Moskitoarten die Sexing-Stämme nicht oder noch nicht existieren. Daran arbeiten wir und andere Gruppen, um diese für die unterschiedlichsten Überträger, etwa auch die Anophelesmücke, die Malaria überträgt, herzustellen. Gerade im Hinblick auf diesen medizinischen Einsatz der SIT gibt es neben den Moskitos schon sehr gute Beispiele im Feld.

STANDARD: Können Sie eines nennen?

Schetelig: Es gibt das Beispiel von Sansibar, wo mittels SIT die Tsetsefliege ausgerottet und die von ihr übertragene Schlafkrankheit drastisch reduziert wurde. Um den Erfolg dieser Interventionen zu messen, führte man epidemiologischen Studie durch und schaute, ob man anhand der Fallzahlen einen medizinischen Effekt feststellen konnte. Auf Sansibar konnte dabei nachgewiesen werden, dass die Schlafkrankheit fast verschwunden ist.

Tigermücke
Moskitos wie die Asiatische Tigermücke dringen zusehends nach Europa vor. Die Tiere gelten als Überträger von mehr als 20 Krankheitserregern.
Public Health Image Library/Phil

STANDARD: Wie geht man bei der Sterile-Insekten-Technik im konkreten Fall vor?

Schetelig: Man braucht einen Stamm, den züchtet man in großen Mengen und wird irgendwie die Weibchen los. Früher funktionierte das durch händisches Sortieren. Mittlerweile geht es durch genetische Sexing-Stämme, bei denen man mit einem Hitzeschock alle Weibchen eliminieren kann und nur noch Männchen hat. Diese werden bestrahlt und sind damit steril. Sie werden am Kopf mit einem fluoreszierenden Farbstoff markiert, damit man in den Feldevaluationen weiß, ob man die freigelassenen oder die wildtypischen Tiere vor sich hat. Nach der Freilassung gibt es viel Monitoring, um zu schauen, wie sich die Population entwickelt.

STANDARD: Wie funktioniert die Freilassung der Tiere?

Schetelig: In den großen Projekten werden die Tiere oft gekühlt als adulte Fliegen in großen Boxen in Cessnas verfrachtet und mithilfe von GPS-Systemen über den jeweiligen Gebieten freigelassen. Diese GPS-Systeme sind mit Daten aus dem Monitoring und dem Feld gefüttert, um zu sehen, wie viel habe ich denn da gerade – und wie viele muss ich dann freilassen? Nach der Freilassung muss man in den Fallen schauen, ob die Zahlen runtergehen und ich weniger den Wildtyp anstatt freigelassener Tiere habe. Basierend darauf wird die benötigte Menge für die nächste Massenzucht berechnet und hergestellt.

STANDARD: Gibt es schon Sterile-Insekten-Technik-Erfolgsgeschichten?

Schetelig: Es gibt derzeit 30 große SIT-Projekte, die weltweit laufen. In den 50er-Jahren hat es angefangen in den USA mit der Schraubenwurmfliege. Das ist eine Fliege, die ihre Eier in Wunden legt, vor allem von Schafen und Kühen. Diese Tiere werden im Endeffekt von innen heraus aufgefressen. Über die Jahrzehnte wurde ganz Nordamerika bis zur mexikanischen Grenze von dieser Fliege befreit. Dann haben sich Amerika, Mexiko und zentralamerikanische Staaten zusammengetan, um bis Panama weiterzumachen. Zurzeit ist man dran, in Südamerika die Populationen runterzubringen. Durch die dortige Rinderzucht sind die Bestände der Fliege viel größer, als sie natürlich sein sollten.

STANDARD: Welchen Schaden verursachen die Fruchtfliegen, denen Sie sich in React widmen?

Schetelig: Diese Arten sind so konkurrenzstark, dass andere Schädlinge, etwa die Mittelmeerfruchtfliege, kein Problem mehr wären, wenn die Bactrocera dorsalis einfallen würde. Wir haben im Mittelmeerraum aber große Mengen an Früchten und Gemüse, und das wird alles von B. dorsalis befallen.

Orangen
Im gesamten Mittelmeerraum gedeihen Obst und Gemüse in Hülle und Fülle. Invasive Fruchtschädlinge können in dieser Region daher enormen Schaden anrichten, so sich nicht in Schach gehalten werden.
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STANDARD: Für Kleinbauern kann das also existenzbedrohend sein?

Schetelig: Auf jeden Fall. Ein anderer Schädling, der vor einigen Jahren eingeschleppt wurde, ist die Kirschessigfliege, Drosophila suzukii. Wenn man gegen diese Art nichts unternimmt, können Bauern ihre gesamte Ernte verlieren. Es gibt ein einziges Insektizid auf dem Markt, und wenn die dagegen resistent sind, dann war's das. Wir können nicht warten, bis ein Schädling da ist, und erst dann etwas dagegen entwickeln. Wir wissen, wie lange Entwicklung dauert, und jeder will, dass alles gut getestet ist. Das lässt sich aber nicht in drei Monaten testen, deshalb gibt es unser EU-Projekt. Es arbeiten 17 Wissenschaftsgruppen zusammen, daran sehen Sie, wie viel Arbeit drinsteckt, um das so gut wie möglich zu machen.

STANDARD: Wie viel an Spritzmitteln kann man durch die Sterile-Insekten-Technik einsparen?

Schetelig: Wenn man die SIT einsetzen kann und damit alles andere ersetzt, geht es bis 100 Prozent. Bei einer großen Menge an Schädlingen muss ich aber zuerst die Population reduzieren, das geht gut mit Insektiziden. Ist eine gewisse Schwelle erreicht, kann man SIT für eine weitere Reduktion verwenden und präventiv einsetzen, um die Zahlen unten zu halten. Dann brauche ich nur noch ganz selten Insektizide. Es hängt ein bisschen vom Szenario ab, man muss auf die Situation schauen und fragen, welche Methoden Sinn machen. Langfristig macht eine Chemikalie nie Sinn für mich. (Marlene Erhart, 19.1.2024)