Eine Waage steht am Boden, im Hintergrund sitzt eine Frau am Boden und stützt beschämt, verzweifelt das Gesicht in die Hände
Essstörungen entstehen häufig in der Pubertät, wenn sich Jugendliche in ihrem Körper unwohl fühlen.
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Vor allem dieser Tage ist die Message auf Social Media eindeutig: So wie dein Körper jetzt ist, ist er nicht gut genug. Dass soziale Netzwerke damit das Körperbild vor allem von jungen Menschen prägen, ist klar. Neben dem Einfluss auf die Psyche sind sie aber auch ein ernstzunehmender Risikofaktor für die Entwicklung von Essstörungen, zeigt eine Metaanalyse von 50 Studien. Einer von vielen.

Denn bei Magersucht und Bulimie geht es um mehr als überzogene Schönheitsideale. Oft sind sie eine Schutzstrategie, um unangenehme Emotionen nicht fühlen zu müssen, erklärt Nina Baumgartner. Sie ist Psychotherapeutin und Gründerin des LeLi-Tageszentrums für Menschen mit Essstörungen. 2021 wurde das Zentrum in Graz eröffnet, man rechnete mit etwa 80 Menschen pro Jahr. Tatsächlich kommen heute fast dreimal so viele. Während Corona ist die Zahl der Essstörungen drastisch gestiegen – und bis heute ist die Nachfrage nach dem Angebot im LeLi ungebrochen. Im Schnitt sind die Betroffenen zwischen 14 und 25 Jahren alt, die meisten von ihnen leiden unter Anorexie, Bulimie und Binge Eating.

STANDARD: Wo endet das bewusste Befassen mit Ernährung, und wo beginnt eine Essstörung?

Baumgartner: Es gibt zwar ganz genaue Diagnosekriterien, aber tatsächlich ist das in der Praxis trotzdem nicht so einfach zu diagnostizieren. Bei der klassischen Anorexie ist es durch das stark sicht- und messbare Untergewicht vergleichsweise einfach. Aber Essstörungen sind ein irrsinnig komplexes Thema. Als Psychotherapeutin verfolge ich den Ansatz der Existenzanalyse. Dabei geht man davon aus, dass jemand dann krank ist, wenn er oder sie wiederholt und über einige Zeit auf die gleiche Art blockiert ist, das zu tun, was er oder sie eigentlich tun möchte.

STANDARD: Was bedeutet das?

Baumgartner: Es ist ein Kontinuum. Wir alle beschäftigen uns über Phasen hinweg mit dem Essen oder haben andere Muster, die sich immer wieder wiederholen. Es kommt dann auf den Grad der Ausprägung darauf an. Das kann bei Betroffenen etwa sein, dass sie sich vornehmen, sich nicht mehr so stark mit essen zu beschäftigen, und am Ende des Tages merken, dass das nicht geklappt hat. Ein Großteil der Gedanken drehte sich dann doch wieder darum, wann man was isst oder nicht isst. Es geht im Kern auch um die Frage, wie stark das Thema den Alltag beeinträchtigt. Eine Diagnose ist also stark vom persönlichen Leidensdruck der Betroffenen abhängig. Dazu kommen körperliche Symptome, beispielsweise die Frage, ob es schon Mangelerscheinungen gibt.

Porträtfoto von Nina Baumgartner, Gründerin des Tageszentrums LeLi 
"Die Essstörung hat zu Beginn erst einmal einen Vorteil für Betroffene, weil sie damit unangenehme Emotionen in den Hintergrund drängen können", erklärt die Psychotherapeutin Nina Baumgartner.
LebensGroß | Traunfellner

STANDARD: Angenommen, man vermutet eine Essstörung bei jemandem im nahen Umfeld. Soll man das ansprechen?

Baumgartner: Unbedingt, immer! Tut man das nicht, übersieht man die Person in ihrer Not. Niemand hat eine Essstörung, weil das Spaß macht, sondern weil es der Person nicht gutgeht. Und wenn man dann noch so tut, als würde man nicht sehen, dass sie oder er leidet, verstärkt man den Schmerz noch weiter. Wichtig ist, dass man einen sicheren Raum schafft, in dem man das Thema ansprechen kann – und das nicht zwischen Tür und Angel passiert, sondern in einer entspannten, vertrauten Situation.

STANDARD: Haben Sie einen konkreten Vorschlag, was man sagen könnte?

Baumgartner: Als Familienmitglied könnte man etwa sagen: "Mir ist aufgefallen, dass du in letzter Zeit nicht mehr mit uns gemeinsam isst. Magst du mir erzählen, ob es dafür einen Grund gibt?" Wichtig ist, dass man nicht vorwurfsvoll in das Gespräch hineingeht, sondern wertschätzend bleibt und Interesse zeigt. Man könnte auch sagen: "Ich habe gemerkt, dass du in letzter Zeit gerne sehr weite Kleidung trägst. Ist das ein neuer Stil, oder steckt da was dahinter?" Wenn das Verhalten schon weiter fortgeschritten ist und jemand beispielsweise schon sehr dünn ist, kann man auch konkreter werden: "Mir ist aufgefallen, dass du sehr viel abgenommen hast. Ich mache mir echt Sorgen um deine Gesundheit und würde gerne einmal mit dir zur Ärztin gehen, damit die sich das anschaut."

STANDARD: Was ist der größte Risikofaktor?

Baumgartner: Das ist total unterschiedlich. Oft ist ein großer Risikofaktor ein nicht ausgeprägtes Selbstwertgefühl. Wer nie gelernt hat, dass man richtig ist, so wie man ist, sondern immer wieder abgewertet wurde, hat sicherlich ein höheres Risiko, an einer Essstörung zu erkranken. Dazu kommt das Umfeld, in dem man aufgewachsen ist, samt Social Media und Co. Das führt zu einer Unzufriedenheit mit dem eigenen Spiegelbild. Essstörungen entstehen ja oft im Pubertätsalter, wenn sich der Stoffwechsel und damit auch der Körper verändert. Betroffene überschätzen dann auch häufig die Wichtigkeit des Aussehens. Sie denken, ich bin nur was wert, wenn ich schlank bin. So ein Glaubenssatz allein macht noch keine Essstörung aus, aber das ist oft der Beginn.

STANDARD: Gibt es auch genetische Faktoren?

Baumgartner: Manche Studien deuten darauf hin, aber in der Forschung bleiben dazu noch Fragen offen. Wenn beispielsweise auch die Oma und die Mutter einer Betroffenen schon eine Essstörung hatten, ist das dann wirklich genetisch vererbt worden oder wurde einfach das Verhalten von den Bezugspersonen übernommen? Ich würde nicht ausschließen, dass auch die Genetik mit reinspielen kann, spannend dazu sind auch die neuesten Studien zur Epigenetik, aber vieles ist noch nicht geklärt.

STANDARD: Welche Rolle spielt das familiäre Umfeld bei Essstörungen?

Baumgartner: Kinder merken das, wenn das Umfeld sehr funktional und leistungsorientiert ist, aber in der Tiefe kaum emotionale Wärme und Zuwendung zu spüren ist. Aber für ein Kind ist es immer leichter, davon auszugehen, dass mit einem selbst was nicht stimmt als mit den Bezugspersonen. Man verliert dann lieber den Kontakt zu sich selbst als zu den Eltern oder Geschwistern.

STANDARD: Wie geht es Betroffenen dann?

Baumgartner: Viele berichten, dass ihnen die Krankheit Kontrolle gibt. Sie haben Unsicherheiten und Zukunftsängste, dann beginnen sie, sich mit Essen zu beschäftigen, und merken, das kann ich kontrollieren. Nach dem Motto, wenn ich sonst schon nichts kann, dann wenigstens das. Zu Beginn der Krankheit geht es ihnen also gar nicht so schlecht, muss man sagen. Oft ist es tatsächlich der Körper, der zuerst schlapp macht. Ihnen wird schwindelig, ist oft kalt oder eine Sportart, die sie früher gemacht haben, können sie nicht mehr so gut ausüben.

STANDARD: Die Essstörung ist also nur ein Symptom für ein tieferliegendes Problem, meinen Sie?

Baumgartner: Genau. Essstörungen sind oft eine Schutzstrategie, die Betroffene verwenden, wenn sie ihre Emotionen nicht regulieren können. Die Essstörung hat also erst einmal einen Vorteil für sie. Dann müssen sie nicht spüren, worum es eigentlich geht. Sie müssen die Angst, die Wut oder welche Emotion auch immer nicht aushalten. Das Essen lenkt ab und drängt die Gefühle in den Hintergrund.

STANDARD: Das geht auf Dauer natürlich nicht gut. Wie geht es also weiter?

Baumgartner: Irgendwann beginnen Betroffene darunter zu leiden, vor allem wenn durch die Essstörung schon soziale Beziehungen abgebrochen sind. Sie fühlen sich isoliert und einsam, vor allem wenn sie für die Essstörung auch noch abgewertet wurden. Also für eine Schutzstrategie dann auch noch abschätzige Kommentare zu ernten, macht das natürlich doppelt schlimm. Gerade in der Schule ist das ein Riesenthema. Entweder du bist zu dick, oder du bist zu dünn, auf jeden Fall wirst du für beides abgewertet.

STANDARD: Das heißt, das enge soziale Umfeld hat schon eine Mitschuld an der Entwicklung einer Essstörung? Eltern von Betroffenen fragen sich ja oft: Was habe ich bloß falsch gemacht, dass es meinem Kind so geht?

Baumgartner: Wenn sie sich das fragen, ist schon viel gewonnen. Aber ich spreche nur ungern von Schuld, das impliziert immer, dass man etwas mit Absicht gemacht hätte. Es geht viel eher darum, dass natürlich auch Eltern ihr eigenes Packerl zu tragen haben. Die hatten auch irgendwann ihre eigenen Schutzstrategien, die sie geprägt haben. Dazu kommt die gesellschaftliche Veränderung. In der älteren Generation, bei der Familienmitglieder teilweise noch im Krieg waren, war auch oft schlicht keine Zeit und nicht viel Raum für emotionale Zuwendung und dafür, sich mit Gefühlen auseinandersetzen. Sie mussten funktionieren. Statt zu fragen, welche Schuld man hat, könnten sich Betroffene damit auseinandersetzen, wie sie Verantwortung übernehmen können.

STANDARD: Wie?

Baumgartner: Genauer hinschauen. Aber das kann schmerzhaft sein. Man merkt vielleicht, oh, das habe ich wirklich übersehen, ich hätte genauer hinschauen sollen. Und dahinter versteckt sich dann ein Gefühl, das wir alle sehr ungern spüren, nämlich die Scham.

STANDARD: Können Betroffene eine Essstörung je ganz überwinden, oder trägt man manche Gedanken für immer mit sich herum?

Baumgartner: Man kann das schon überwinden. Ich kenne einige, die wirklich sehr tief in der Essstörung drin waren und jetzt ein schönes, gesundes Leben führen. Ich denke nur, dass vor allem in Krisensituationen die Einladung, wieder in alte Muster zu fallen, sehr stark ist. Dann ist der Grad der Bewusstheit entscheidend, also die Frage, wie gut man mit sich selbst in Kontakt steht. Wie schnell man merkt, oh, da muss ich jetzt aufpassen und vielleicht mit jemandem darüber reden. Viele entwickeln aus der Krankheit heraus ein sogenanntes posttraumatisches Wachstum. Sie haben dann eine viel größere Fähigkeit zur Selbstreflexion als Menschen, die nie eine solche Krankheit hatten. (Magdalena Pötsch, 20.1.2024)