Instagram-Fasten
Einfach nur aus dem Fenster zu schauen und die Gedanken ziehen lassen: anfangs gar nicht so leicht.
Regine Hendrich

Die Frau in dem Video sagt, es ist ganz einfach. Man muss nur regelmäßig üben, dann ist kräftiges Singen in höheren ­Lagen ein Klacks. Sie muss es wissen! Immerhin tritt sie am Broadway auf, das weiß ich aus ihren anderen Videos. Singen ist zwar nur mein Hobby, aber ich will mich trotzdem verbessern. Aber statt mich hinzusetzen und tatsächlich wie empfohlen zu üben, scrolle ich weiter durch Instagram. Den Knoten in meinem Bauch, der währenddessen immer fester wird, ignoriere ich. Im Nachhinein ärgere mich wieder einmal über mein schlechtes Zeitmanagement.

Abtauchen in die bunte Insta-Welt

Es ist Ende Oktober. Der Krieg zwischen ­Israel und der palästinensischen Hamas tobt seit knapp einem Monat. In meinem Job bin ich nonstop mit den Bildern und Nachrichten konfrontiert, auch die Lage in der Ukraine hat sich nicht beruhigt. Als Journalistin weiß ich nie, was als Nächstes kommt – und rechne gleichzeitig mit allem. Dazu ist die Medienbranche derzeit generell unter Druck, auch das schlägt sich auf meine Stimmung nieder.

Wenn mir die Realität zu viel wird, tauche ich ab. Mein Quell der Zerstreuung ist Instagram. Ich brauche nicht denken, nur swipen und tapen und verliere mich im Sog der bunten Bilder, der inszenierten Fröhlichkeit und der stetigen Selbstoptimierung. Interior­-Design, Yoga, Ernährung, Gesangsvideos: Da ist schon wieder dieser Knoten im Bauch.

Wie viele leide ich am 08/15-First-World-Problem des 21. Jahrhunderts. Ein gesunder Umgang mit Social Media fällt mir schwer. Was wäre, wenn ich darauf verzichte? Wird sich die Welt dann langsamer drehen? Zeit für ein Selbstexperiment: Ich lösche Instagram!

Für meinen Versuch gelten drei Regeln: Wenn beruflich notwendig, darf ich mich am Desktop einloggen. Auf andere Social­-Media-Apps auszuweichen ist verboten. Und das ­Social-Media-Detox soll bis Ende des ­Jahres dauern. Los geht’s.

Adios, Instagram!

1. 11. 2023: Langer Tap auf das pinke Icon, deinstallieren.

3. 11. 2023: Ich greife ständig nach meinem Handy. Nach dem Aufstehen. Auf dem Weg zur Toilette. Beim Warten auf die Straßenbahn. In der Bim. Ich fühle mich kribbelig und unbeholfen. Was soll ich bitte mit meinen Händen machen? Wo soll ich hinschauen?

Das ist kein Detox, das ist Entzug. Ich suche den Rat einer Expertin und frage bei Sandra Gerö nach. In ihrer Tätigkeit als ­klinische und Gesundheitspsychologin beschäftigt sie sich regelmäßig mit den Auswirkungen von Social Media auf unsere Psyche. Sie erklärt mir: Mein Gehirn hat sich an mein bisheriges Nutzungsver­halten angepasst. Der Ausfall der Routine führt jetzt zu Irritation. Damit eine neue Gewohnheit entsteht, müssen sich die neuronalen Verknüpfungen erst umstrukturieren, und das dauert ein wenig.

4. 11. 2023: Ich bin beim Friseur und ­beobachte im Spiegel, wie die Blondierung das Melanin aus meinen Haaren saugt. Der Empfang hier ist ohnedies immer schlecht. Als ich am Ende meine Föhnfrisur im Spiegel betrachte, poppt eine selbstironische ­Insta-Story in meinem Kopf auf, die ich nicht posten werde. Auch von meinem Besuch in dem neuen hippen Café wird die Welt nie erfahren. War ich dann überhaupt dort?

8. 11. 2023: Ich überlege, mir einen ­Kreuzworträtselblock fürs Klo zu besorgen.

9. 11. 2023: Ich moderiere das erste Mal live vor Publikum. Das hätte ich jetzt wirklich gerne auf Instagram geteilt. ­Meinen Freundinnen einfach so ein Foto davon zu schicken kommt mir überzogen vor.

Meine Freundinnen seien eben nicht meine Zielgruppe auf Instagram, erklärt mir Sandra Gerö. Zielgruppe? Ich bin doch keine Influencerin. Klar geht es darum, Reaktionen auf einen Beitrag zu bekommen. Likes sind Anerkennung. "Deshalb haben Sie unbewusst gelernt, worauf Leute reagieren. Sie wurden gut konditioniert", erklärt Gerö. Gleichzeitig ginge es auch um das Image, das ich nach außen präsentieren würde. Ich gebe zu, das unterscheidet sich dann doch von der Rohfassung, die meine Freundinnen abbekommen.

10. 11. 2023: Öffi-Fahren ist eine Herausforderung. Ich fühle mich unwohl dabei, einfach nur in der Gegend herumzuschauen. Ich brauche irgendetwas für meine Finger. Ich lösche alte Dateien vom Handy und ­gewinne damit Speicherplatz für Bilder, die ich nicht machen werde, weil ich sie nicht teilen kann. Ich kaufe mir ein Buch, um mich in den Öffis abzulenken.

Instagram-Fasten
Profitiert am meisten: Für Kater Pudding gibt es zusätzliche Streicheleinheiten
Regine Hendrich

12. 11. 2023: Rückfall. Ich schaue You­tube-Shorts. Sie sind richtig schlecht. Ich brauche eine Aktivität zwischen den Aktivitäten. Wenn der Film zu Ende ist und ich nicht gleich aufstehen und Zähne putzen will.

In diesen Zwischenmomenten meine Gedanken einfach laufen zu lassen – das würde ich mit der Zeit wieder lernen, prophezeit mir Sandra Gerö. "Ich bin ein Fan von Langeweile. Unser Gehirn braucht auch Pausen, um Dinge fertig zu denken und sie einzuordnen. Wenn wir diese Pausen nicht haben, dann kommt es zu einer ständigen Informationsüberflutung, bei der das Gehirn ununterbrochen filtern muss. Das ist ein zusätzlicher Stressfaktor." Gebe ich meinem Gehirn also keinen Raum, herausfordernde Aktivitäten zu verarbeiten, dann steigert sich mein Stressempfinden darüber noch weiter.

Süchtigmachendes Design

16. 11. 2023: Ich muss einen Instagram-Beitrag für einen Artikel überprüfen und logge mich am Desktop in der Redaktion ein. Sechs Benachrichtigungen und zwei ­Direktnachrichten leuchten auf. Mehr nicht? Ich schaue sie nicht an. Wer wirklich etwas von mir braucht, hat hoffentlich meine ­Telefonnummer. Schnell wieder ausloggen. Die leuchtenden Kreise um die Bilder jener Profile, die etwas in ihre Story ­gepostet haben, verfolgen mich den ganzen Tag.

23. 11. 2023: Ich vermisse das Posten. Es macht mir Spaß. Aber posten zu können heißt auch, dem Risiko des Doomscrollings ausgesetzt sein. Warum landet mein Daumen immer wieder bei Insta-Reels, wenn ich eigentlich nur eine E-Mail checken wollte?

Die Antwort lautet Addictive Design: Die Knöpfe sind dort, wo die Daumen sind. Die leuchtenden Farben ziehen uns in den Sog jener Apps, die von unserer anhaltenden Verweildauer profitieren. "Eigentlich ist es sinnvolles Verhalten, wenn wir uns informieren wollen", sagt Gerö, "aber dieses Bedürfnis wird ausgenutzt und mit Inhalten gefüttert, die in Wahrheit selten relevant für uns sind." Nebenbei werden unsere persönlichen Daten abgeschöpft. "Das ist leider vielen Leuten zu wenig bewusst."

25. 11. 2023: Der erste Schnee! Ich bin froh, dass ich nicht tausend Postings dar­über sehen muss, und beobachte stattdessen meine Katze, die jede einzelne Flocke hinter dem geschlossenen Fenster zu fangen versucht. Auch schön!

26. 11. 2023: Das gekaufte Buch trage ich immer noch mit mir herum. Angefangen es zu lesen habe ich noch nicht.

1. 12. 2023: Einen Monat geschafft! Beim Bim-Fahren schaue ich jetzt aus dem Fenster und lasse die Gedanken ziehen. Auf der Toilette habe ich das Make­over meines Badezimmers bis ins Detail durchgeplant. In den freien Minuten zwischendurch gibt es Extra-Streicheleinheiten für ­die Katze.

2. 12. 2023: Meine beste Freundin war in Paris, und ich hatte keine Ahnung. "Ach so, du hast ja kein Insta!", sagt sie. Offenbar ­reden wir weniger miteinander als gedacht.

Dass Social Media extrem wichtig für unsere sozialen Kontakte ist, bestätigt mir auch Sandra Gerö. Darauf zu verzichten heißt, Dinge nicht zu erfahren, während sie passieren, sondern nachträglich. "Die Frage ist auch, ob Sie wirklich etwas versäumt haben – denn irgendwann trifft man sich ja doch und tauscht sich aus."

3. 12. 2023: Es ist so weit: Ich lese abends das gekaufte Buch! Nach 22 Seiten merke ich, wie müde ich eigentlich bin.

Folgt die Katharsis?

7. 12. 2023: Bin ich geheilt? Die Stra­ßenbahn hat eine Störung, ich habe kein Instagram, höre keine Musik, drücke auch sonst nicht auf meinem Handy herum und bin trotzdem entspannt? Na gut, ich habe vor dem Weg­gehen auch Yoga gemacht.

9. 12. 2023: Ein klassischer Sch***-Tag. Ich habe den Zug verpasst und mich aus der Wohnung ausgesperrt. Ich bin grantig, will mich in eine Ecke setzen und in ­meinem Insta-Loch versinken! Frage ­Google nach "Alternativen für Social Media". Jemanden anrufen. Sorry, aber dafür hab ich jetzt ­keine Energie. Ein neues ­Hobby lernen. Ich bekomme ja nicht einmal meine jetzigen Hobbys unter! Bewegung? Ich mache sicher keinen „stupid walk for my stupid mental health“!!!

"Warum fühlen Sie sich schlecht, und ­können Sie das nicht einfach aushalten?", stellt mir Sandra Gerö eine Gegenfrage, als ich sie nach einem Rat für solche Momente bitte. "Das Leben ist nicht nur lustig. Manchmal ist es auch gut zu spüren, wenn Trauriges oder Enttäuschendes passiert." Aber sie hat auch Vorschläge. "Kochen, Musik hören, Schreiben oder meinet­wegen Stricken ... Irgendetwas tun, das einem ein gutes Gefühl gibt. Das ist sehr persönlich. Oder man probiert konkrete Achtsamkeits- und Körperübungen."

16. 12. 2023: Corona. Jetzt bin ich vollkommen abgeschottet von der Welt. Mein Mann ist beruflich im Ausland. Ich bleibe mit meiner rotzenden Nase auf dem Sofa zurück und tauche vollkommen ins Universum von Gossip Girl ab. Eine ganze Staffel in zwei Tagen, ohne zwischendurch Ablenkung am Handy zu suchen. Am Ende tränen meine Augen nicht mehr von der Erkältung, sondern von den emotional aufreibenden Geschehnissen an der Upper East Side.

20. 12. 2023: Fast Weihnachten, und ich habe noch keine Postings von Christkindlmarktbesuchen, Punschstand-Selfies oder selbstgemachten Krapferln gesehen, die meinem Unterbewusstsein Druck machen, in der stressigsten Zeit des Jahres gefälligst etwas Besinnlichkeit zu verspüren. Ich erfreue mich stattdessen an dem wunder­schönen Trockenblumenkranz, den eine gute Freundin handgemacht hat. Ich schicke ihr auf Whatsapp ein Foto mit den bren­nenden Kerzen und Weihnachtsgrüßen dazu.

24. 12. 2023: Wir feiern ein ruhiges Fest in Zweisamkeit, mit gutem Essen und Wein. Was alle anderen machen, erfahre ich nicht – und es kümmert mich auch nicht.

28. 12. 2023: Solange ich mein Handy nicht griffbereit habe, tippe ich auch nicht wahllos drauf herum. Zu Hause liegt es jetzt meistens in der Ladestation. Wenn ich unterwegs bin, stecke ich es öfter in den Rucksack.

31. 12. 2023: Zwei Monate ohne Instagram! Und jetzt? Habe ich mehr Zeit für andere Dinge? Ist meine Gesangskarriere bereit für den Broadway? Nicht wirklich. Dreht sich meine Welt langsamer? Definitiv. Meinem Gehirn zwischendurch eine Pause zu gönnen tut richtig gut. Ich fühle mich sortierter und erledige Kleinigkeiten gleich, anstatt sie auf die imaginäre To-do-Liste zu schreiben. Ich vermisse aber die Updates aus dem Leben meines Umfelds – und das Posten. Nur wie bekomme ich das hin, ohne wieder in alte Verhaltensmuster zu fallen?

"Ich würde vorschlagen, Sie bauen sich eine Struktur auf", rät Sandra Gerö, "Wozu wollen Sie Instagram nutzen, und was möchten Sie vermeiden? Legen Sie eine ­bestimmte Zeit fest, in der Sie sich diese Dinge bewusst ansehen – und dann legen Sie das Handy wieder konsequent weg", so die Expertin. Klingt machbar. Trotzdem habe ich die App noch nicht wieder installiert. Vielleicht mache ich es dann, wenn dieser Artikel erscheint. Meine Zielgruppe muss schließlich erfahren, dass ich weg war. (Margit Ehrenhöfer, 20.1.2024)