Kardiologin Barbara Natterson-Horowitz steht vor einem Giraffengehege
Warum leiden Giraffen trotz extrem hohen Blutdrucks nicht an Herzkrankheiten? Die Kardiologin Barbara Natterson-Horowitz kennt die Antwort, die insbesondere Frauen zugutekommen könnte.
Crystal Whiteaker, Crystal Lily Creative

Die ersten fünfzehn Jahren ihrer Karriere machte Barbara Natterson-Horowitz das, was hochqualifizierte Spezialistinnen für Herz- und Herzkreislauferkrankungen eben so tun: "Ich arbeitete zum einen im Spital mit Patientinnen und Patienten, zum anderen unterrichtete ich an der Universität", sagt die Kardiologin. In ihrem Fall ist das die University of California in Los Angeles (UCLA), an der sie seit mittlerweile rund 25 Jahren Professorin ist; dazu kommt seit 2017 eine Gastprofessur an der Harvard University im Bereich Evolutionsbiologie.

Diese Doppel-Affiliation hat damit zu tun, dass die Laufbahn der Medizinerin, die selbst aus einer Familie von Ärzten und Psychiatern stammt, vor knapp 20 Jahren eine unvermutete Wendung nahm: 2005 wurde sie vom Zoo in Los Angeles gebeten, den dortigen Veterinärmedizinern bei komplizierten Herzerkrankungen zu helfen. "Damals sah ich zum ersten Mal 'menschliche Krankheiten' bei Tieren: Herzversagen bei einem Okapi, metastasierenden Brustkrebs bei einer Löwin oder psychiatrische Krankheiten wie Zwangsstörungen", erinnert sich Natterson-Horowitz im Gespräch mit dem STANDARD.

Barbara Natterson-Horowitz
Die Kardiologin bei einem früheren Einsatz mit einem ihrer größeren tierischen Patienten.
privat

Diese Beobachtungen öffneten der Wissenschafterin, die vor ihrer Medizinausbildung Evolutionsbiologie bei Koryphäen E. O. Wilson und Stephen Jay Gould in Harvard studiert hatte, die Augen für einen anderen Blick auf Krankheiten und brachten sie ins produktive Grübeln: "Ich fragte mich zum einen, warum ich während meines Medizinstudiums nichts darüber gehört hatte, dass diese Krankheiten auch bei Tieren spontan auftreten können. Zum anderen fiel mir damals erst so richtig auf, wie strikt die Abgrenzung zwischen den Ausbildungen für Human- und für Veterinärmedizin ist, obwohl viele Krankheiten bei Mensch und Tier so ähnlich sind."

Diese Fragen waren der Ausgangspunkt für eine große wissenschaftliche Reise, die immer noch andauert und die Natterson-Horowitz an den Grenzen von Evolutionsbiologie, Human- und Veterinärmedizin ein neues Forschungsfeld mitbegründen ließ. Dafür prägte sie auch einen neuen Begriff, nämlich Zoobiquity, der das altgriechische Wort für Tier mit der lateinischen Bezeichnung für Allgegenwärtigkeit anglisierend verbindet.

Dieser Neologismus, der selbst drei (Sprach-)Kulturen vereint, wurde nicht nur zum Titel eines Buchs, das sie mit Kathryn Bowers 2012 veröffentlichte und das zum New York Times-Bestseller wurde (auf Deutsch "Wir sind Tier", 2014). Unter diesem Titel finden seit 2011 auch regelmäßig Zoobiquity-Konferenzen statt, die bis heute tausende Ärzte, Tierärztinnen, Wildtier-Expertinnen und Evolutionsbiologen zusammengebracht haben. 2019 fand eines dieser Symposien am Karolinska-Institut in Stockholm statt, das den Medizin-Nobelpreis vergibt.

Viel mehr als Zoonosen

"Wenn es um Krankheiten bei Mensch und Tier geht, denken die meisten Fachleute nur an Zoonosen, also etwa Infektionen, die zwischen Tieren und Menschen übertragen werden können", sagt Natterson-Horowitz. "Doch ist das nur ein ganz kleiner Bereich. Die Zusammenhänge von tierischer und menschlicher Gesundheit reichen viel weiter und sind viel grundsätzlicher." Entsprechend wird bei den Zoobiquity-Konferenzen vor allem über Krankheiten diskutiert, die sowohl Menschen "wie auch nichtmenschliche Tiere" betreffen, wie die Kardiologin formuliert, die mit ihren öffentlichkeitswirksamen Forschungen nicht nur an der UCLA und in Harvard zur Vorreiterin des aufstrebenden neuen Bereichs der evolutionären Medizin wurde.

Durch den Abbau der kulturellen Barrieren zwischen Evolutionsbiologie, Human- und Tiermedizin will sie zu einer neuen Transdisziplinarität beitragen, "weil da die wirklich spannenden Dinge passieren". Um Beispiele dafür ist Natterson-Horowitz nicht verlegen, die eine eloquente und vielfach ausgezeichnete Vermittlerin und Advokatin ihrer innovativen Ansätze – etwa auch auf Ted-Konferenzen – ist.

Kurzporträt von Barbara-Natterson-Horowitz
Die Kardiologin erklärt ihre Forschungen am Beispiel der Giraffe.
UCLA Health

Sie selbst hat unter anderen aus evolutionsbiologischer Perspektive zur Arteriosklerose geforscht, die gemeinhin als eine Zivilisationskrankheit gilt und unseren Lebensumständen geschuldet sei. Doch wie sie rekonstruieren konnte, finden sich die Anlagen dafür praktisch bei allen Wirbeltieren. Arteriosklerose ist also in Wahrheit aus evolutionärer Perspektive uralt.

Vom Giraffenherz lernen

Exemplarisch für den Ansatz der evolutionären Medizin sind auch Untersuchungen zum Giraffenherz, von dem sich einiges für Herzkrankheiten von Menschen abschauen lässt, die bei uns die häufigste Todesursache sind. "Um das Gehirn mit Blut zu versorgen, muss dieses vom Herz der Giraffe fast drei Meter nach oben gepumpt werden. Entsprechend müssen Giraffen mit einem extrem hohen Blutdruck zurechtkommen", erklärt die Kardiologin. Um diese Pumpleistung zu schaffen, ist das Herz entsprechend adaptiert, seine linksseitige Muskelwand ist besonders dick, was beim Menschen – und insbesondere bei Frauen – zu Herzinsuffizienz und einem erhöhten Infarktrisiko führen würde.

Doch warum haben Giraffen solche Probleme nicht und können trotz dieser Verdickung bis zu 40 km/h schnell laufen? 2021 konnten chinesische Forschende einen Teil des Rätsels lösen, sagt Natterson-Horowitz: Sie identifizierten eine spezielle Variante des Gens FGFRL1 als Grund dafür, warum Giraffen mit dem extrem hohen Blutdruck und mit der Muskelverdickung gut leben können. Und sie schafften sogar einen experimentellen Beweis dafür, indem sie das Gen mittels Genschere Crispr-Cas-9 in Mäuse einschleusten, die hohen Blutdruck hatten, den aber ebenfalls problemlos überstanden. Ob sich dieses Giraffen-Gen für den Menschen medizinisch nutzbar machen lässt, sei laut der Kardiologin allerdings noch offen.

Etwas weiter sei ihr Kollege Joshua Schiffman mit einer anderen tierischen Genvariante, nämlich des Tumorsupressor-Gens p53 bei Elefanten, erzählt Natterson-Horowitz. Die Dickhäuter seien das beste Beispiel für ein Paradoxon, das der britische Epidemiologe Richard Peto vor fast 50 Jahren formulierte: Je größer ein Tier ist und je länger es lebt, desto größer müsste eigentlich auch das Risiko sein, an Krebs zu sterben. Doch bei Elefanten treten Tumore relativ selten auf, was auch damit zu tun hat, dass die Dickhäuter gleich 20 Kopien von p53 im Genom besitzen, wie Schiffman entdeckte. Der Kinderkrebsspezialist hat kürzlich ein Start-up namens Peel-Therapeutics gegründet, um diese Erkenntnisse aus der evolutionären Medizin quasi revolutionär nutzbar zu machen.

Nutzen für die Gender-Medizin

Natterson-Horowitz' Ideen zur evolutionären Medizin helfen aber nicht nur, aus genetischen Anpassungen bei Tieren für den Menschen mögliche Nutzen zu ziehen, sondern gehen noch sehr viel weiter. Sie sieht darin auch eine besondere Chance, Genderfragen besser zu berücksichtigen – wie am Beispiel des Giraffenherzes. Denn neben der evolutionsbiologischen Perspektive seien gerade auch physiologischen Besonderheiten des weiblichen Körpers in der biomedizinischen Forschung lange viel zu kurz gekommen. Zudem interessiert sie sich in den letzten Jahren vermehrt auch für psychische Erkrankungen bei Mensch und Tier – etwa postnataler Depression, die bei Menschen und nichtmenschlichen Tieren vorkommt.

Ihre diesbezüglichen Recherchen führten sie 2023 auch nach Österreich. Denn in gewisser Weise knüpfen ihre Arbeiten an den Arbeiten der Verhaltensforscher Konrad Lorenz und Niko Tinbergen an. Die beiden hatten vor 50 Jahren den Medizin-Nobelpreis auch dafür erhalten, dass ihre Forschungen an Tieren auch Erkenntnissen für die Psychiatrie und psychosomatische Medizin bereithielten, wie es damals in der Begründung hieß. "Das war damals eher noch ein Versprechen", sagt Natterson-Horowitz. "Heute sind wir weiter, um es irgendwann auch tatsächlich einzulösen." (Klaus Taschwer, 20.1.2024)