Millionen Menschen flüchteten aus der Ukraine, hier etwa ins benachbarte Polen.
Millionen Menschen flüchteten aus der Ukraine, hier etwa ins benachbarte Polen.
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Im Februar jährt sich der Beginn der russischen Invasion zum zweiten Mal, und abseits der blutigen Front, die sich seit Monaten kaum verschiebt, nimmt die Sorge im Hinblick auf die demografische Krise in der Ukraine zu. Die Einwohnerzahl soll mittlerweile bei 37 Millionen liegen und könnte in den kommenden Jahren noch weiter sinken.

Der Bevölkerungsrückgang ist dabei kein neues Phänomen, sondern so wie in vielen Ländern in Ost- und Südosteuropa seit Jahrzehnten zu beobachten. Doch durch den Krieg hat sich die Entwicklung in der Ukraine dramatisch verstärkt. Laut Uno sollen aufgrund des Krieges derzeit sechs Millionen Menschen im Ausland leben. Die Mehrheit davon sind Frauen im erwerbsfähigen Alter. Je länger der Krieg andauert, desto schwieriger wird es, die Menschen zur Rückkehr zu bewegen. Das ergab eine Umfrage des in Kiew ansässigen Forschungsinstituts Gradus. Vor einem Jahr gaben acht Prozent der befragten Geflüchteten an, im Ausland bleiben wollen, zuletzt waren es bereits 18 Prozent.

Geburtenrate sank um 28 Prozent

Die hohe Abwanderung der Menschen ins Ausland sei noch immer der Hauptfaktor für den Bevölkerungsrückgang, erklärt Ella Libanowa, Direktorin des Ptoukha-Instituts für Demografie und soziale Studien an der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine. "Wir wissen aber auch, dass die Sterblichkeitsrate nicht nur an der Front übermäßig hoch ist, sondern leider auch in der Zivilbevölkerung." Dazu kommt die niedrige Geburtenrate.

Bereits im Jahr 2021 war diese mit statistisch gesehen 1,2 Geburten pro Frau eine der niedrigsten in Europa, sie ist unter anderem auf die große wirtschaftliche Unsicherheit, einen Mangel an Unterstützungsleistungen und Familienpolitik sowie konservative Geschlechternormen zurückzuführen. In der ersten Hälfte des Jahres 2023 sank die Geburtenrate im Vergleich zu 2021 um 28 Prozent. Eine Entwicklung, die besonders in den Regionen und Orten nahe der Frontlinie zu beobachten ist, in der Stadt Mykolajiw im Süden des Landes etwa.

Allein im regionalen Krankenhaus in Mykolajiw kamen vor dem Krieg jährlich zwischen 500 bis 600 Neugeborene auf die Welt, sagt Natalia Pushlenkowa, die leitende Hebamme. Im Jahr 2022 lag die Zahl bei 150. "Das liegt daran, dass viele Menschen die Stadt verlassen haben. Diejenigen, die konnten, sind gegangen", so die 58-Jährige. Zwar leben in der Stadt mittlerweile aufgrund der Geflüchteten aus dem benachbarten Oblast Cherson wieder ungefähr genauso viele Menschen wie vor Kriegsbeginn. Doch vielen fehlt es an einer beruflichen Perspektive.

Unternehmen abgewandert

"Wenn es keine Arbeit gibt, haben die Leute kein Geld, und dann wird es auch weniger Kinder geben", so Hebamme Pushlenkowa. "Die Leute werden immer dorthin gehen, wo es ihnen besser geht." Laut Gouverneur Witalij Kim sind aus der Gegend mindestens 340 Unternehmen in andere Regionen abgewandert, 164 seien geschlossen worden.

Auf die Wirtschaft des Landes hat die demografische Entwicklung langfristig eine verheerende Auswirkung. Das ukrainische Wirtschaftsministerium schätzt, dass die Ukraine in den nächsten zehn Jahren 4,5 Millionen zusätzliche Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt benötigen wird. "Wir sind uns dessen bewusst, dass wir diese Verluste nicht kompensieren werden, und wir sind weit davon entfernt zu glauben, dass von den sechs Millionen Menschen, die jetzt im Ausland sind, alle zurückkehren werden", sagt Ella Libanowa. "Wenn wir Glück haben, dann ist es die Hälfte. Aber das alles hängt davon ab, wie lange der Krieg noch dauert."

Düstere Prognosen

Studien des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) und des wissenschaftlichen Dienstes der Europäischen Kommission (JRC) zeichnen ein pessimistisches Bild der Lage, sollte der Krieg noch lange andauern. "In jedem Fall steht die Ukraine vor einer dramatischen demografischen Herausforderung, ähnlich wie Europa nach dem Zweiten Weltkrieg", erklärt Maryna Tverdostup, Autorin der WIIW-Studie.

Im Worst-Case-Szenario des JRC-Berichts wird davon ausgegangen, dass die Zahl der Vertriebenen in den kommenden Jahren wieder ansteigen wird und die wirtschaftliche Erholung und den Wiederaufbau verzögern wird. Demnach könnte die Bevölkerungsanzahl auf 29,9 Millionen im Jahr 2050 sinken. (Daniela Prugger aus Kiew, 20.1.2024)