Philip Bauer, Lukas Miko, Nicola Werdenigg und Gerti Drassl trafen sich am Drehort im STANDARD, um die Brücke zwischen Film und Realität zu schlagen.
Foto: STANDARD/Regine Hendrich

Rund sechs Jahre ist es her. Am 20. November 2017 erschien im Standard der Artikel "Es gab Übergriffe von Trainern, Betreuern, Kollegen". Die ehemalige Rennläuferin Nicola Werdenigg schilderte im Gespräch mit Sportressortleiter Philip Bauer ihre düsteren Erfahrungen aus dem Skizirkus der 1970er-Jahre. Die Veröffentlichung zog Kreise. Es gab Drohungen, Anfeindungen, aber auch Anerkennung und Bestätigung durch Zeitzeuginnen. Jetzt findet der Stoff seinen Weg auf die Leinwand.

Der Spielfilm Persona Non Grata feiert am 24. Jänner im Wiener Gartenbaukino Premiere. Die Protagonisten wurden von Regisseur und Drehbuchautor Antonin Svoboda fiktionalisiert. Aus Nicola Werdenigg wurde Andrea Weingartner, dargestellt von Gerti Drassl. Aus Philip Bauer wurde Thomas Fuchs, gespielt von Lukas Miko. In den Räumlichkeiten des Standard schlagen die vier die Brücke zwischen Fiktion und Realität.

Bauer: Vor sechs Jahren habe ich Nicola an dieser Stelle getroffen, jetzt landet die Geschichte dieses Interviews im Kino. Das war, gelinde gesagt, so nicht zu erwarten.

Werdenigg: So weit kann man nicht vorausdenken, die Folgen waren nicht abzusehen. Die Anfeindungen haben das Ganze erst ins Rollen gebracht. Das war nicht mehr in unserer Hand. Aus dem Schneeball wurde eine Lawine.

Drassl: Ich kenne diesen Zeitungsartikel quasi seit Stunde null, er hat mich damals schon sehr berührt. Ich bin dankbar, dass Nicola diesen Schritt gemacht hat. Mit allem, was dazugehört. Das war unglaublich mutig.

Miko: Warst du überrascht von den Reaktionen, dem Diffamieren, dem kompletten Mangel an Empathie? Hast du es jemals bereut?

Werdenigg: Ich habe auf der einen Seite viel Zuspruch bekommen, auf der anderen Seite haben viele komplett abgeblockt. Aber nein, bereut habe ich es nie. Ich bin niemandem böse. Das verhärtet nur.

Bauer: Ich habe das Ausmaß der Reaktionen zunächst unterschätzt. Wäre dasselbe in einer Randsportart passiert, hätte es wohl kaum jemanden interessiert. Der Skisport war die heilige Kuh, die man nicht anzufassen hat.

Miko: Wo es auch ums Geschäft geht.

Bauer: Und um Nationalstolz. Also zumindest früher waren die Skihelden für uns identitätsstiftend. Alles blütenweiß. So eine schmutzige Angelegenheit war in dem Konzept nicht vorgesehen.

Werdenigg: Wir hatten die ersten Reaktionen aber einkalkuliert.

Bauer: Du vielleicht.

Werdenigg: Deine kluge Entscheidung war es, bis zum Winter zu warten. Und als wir hier gesessen sind, ist mir klar geworden, ich muss alles erzählen. Nicht nur von der Gesamtstimmung und den Skihauptschulen. Ich musste auch über die Vergewaltigung reden.

Drassl: Das war eine spontane Entscheidung?

Werdenigg: Ja. Heribert Corn war als Fotograf dabei. Der hat dann den Raum verlassen, das war zu viel für ihn.

Nicola Werdenigg 2017 bei dem Gespräch, das eine Lawine auslöste.
Foto: STANDARD/Heribert Corn

Bauer: Er hat mir am selben Tag eine Nachricht geschickt. Er meinte, das würde durch die Decke gehen. Ich hatte Zweifel. Aber er hat recht behalten. Nicola wurde in der Krone über eine Doppelseite als Lügnerin geframt. Das muss man aushalten können.

Drassl: Ich würde das nicht aushalten, es würde mich total verstören. Als Schauspielerin möchte ich mich schon eingraben, wenn ich eine schlechte Kritik bekomme.

Miko: Da haben sich einige bis zur Kenntlichkeit entstellt. Man muss fast froh sein, dass der ganze Eiter sichtbar wurde. Was mich beeindruckt hat, war Nicolas Größe und Weitsicht, zu sagen, es geht nicht um das Anklagen Einzelner, sondern um das System. Und dass sie den Stein ins Rollen gebracht hat, den Staffelstab der Verantwortung aber an die Gesellschaft weitergereicht hat.

Drassl: Und auch das Verständnis, dass viele eben nicht über ihre Vergangenheit reden wollen. Weil das eben auch seine Gründe hat. Mit Konfrontation lässt sich etwas bewegen. Aber Verständnis für andere Lebenssituationen ist genauso wichtig.

Werdenigg: Es gibt bei Betroffenen die verschiedensten Strategien zur Bewältigung. Gerade wenn die Geschehnisse weit zurückliegen, kann man sich in der Erinnerung die Welt zurechtbauen. Zum eigenen Schutz.

Bauer: Kürzlich hat mir jemand geschrieben: Gut, dass die Dinge aufgearbeitet wurden, aber hat sich irgendwas verändert?

Drassl: Auf jeden Fall hat es das. Es gibt ein Bewusstsein, eine Anlaufstelle. Das ist nicht Hollywood, wo gleich alles gut wird. So sind wir als Menschen nicht gestrickt. Es braucht viele kleine Schritte. Allein dass geredet wird, ist ein Fortschritt. Und da spüre ich Bewegung, auch in unserem Berufsfeld.

Miko: Ich bemerke an Filmsets, dass eine größere Achtsamkeit gegenüber jeder Form von Sexismus herrscht. Dass Macht mehr infrage gestellt wird. Ich glaube, das Bewusstsein ist in vielen Bereichen größer geworden. Wenn auch noch nicht genug.

Drassl: Deshalb denke ich, dass wir einen historischen Film gemacht haben. Wir erzählen Geschichte.

Bauer: Will man mit so einem Film der Sache einen weiteren Anstoß geben?

Drassl: Bestimmt. Antonin Svoboda und Markus Schleinzer sprechen in ihrem Drehbuch einen wesentlichen Punkt an: Wie geht man innerhalb von Familien mit einem solchen Trauma um? Es ist ein Transgenerationendrama. Das wollte ich als Schauspielerin unbedingt erzählen.

Persona Non Grata - Trailer
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Miko: Es dreht sich um die Familie als Keimzelle der Gesellschaft. Wie geht man miteinander um? Schweigt man, redet man? Ich habe bei der Rolle zunächst geschwankt, nicht viele Gestaltungsmöglichkeiten gesehen. Aber dann habe ich nachgedacht: Worum geht es bei meiner Rolle? Es geht ums Zuhören. Und die Qualität meines Zuhörens beeinflusst die Art und Weise, wie das Publikum der Andrea Weingartner zuhört. Das ist für mich auch eine große Fähigkeit eines guten Journalisten, dass er wirklich zuhört und sein Gegenüber nicht von vornherein für eine bestimmte Absicht benutzt.

Bauer: Mit dem Zuhören ist es nicht getan, ich muss auch sehr viele Fragen stellen.

Werdenigg: Das war nicht immer angenehm. Aber natürlich musste es sein.

Bauer: Jetzt werde ich oft gefragt: Wie nah ist der Film an der Realität? Das ist für Außenstehende oft die brennende Frage. Ich antworte: Based on a true story. Macht die Realität den Film, oder wird der Film in den Köpfen des Publikums zur Realität?

Werdenigg: Es fließt nicht nur eine Geschichte ein, sondern mehrere. Es ist based on true stories. Es sind wahre Geschichten, die stattgefunden haben. Reaktionen, die es gegeben hat. Emotionen, die es gegeben hat.

Drassl: Wir kennen euer Gespräch, aber was innerlich bei Nicola passiert ist, das wissen wir nicht. Und das sollten wir auch nicht wissen. Das Drehbuch ist inspiriert von den Geschehnissen, fügt aber einen privaten Bereich hinzu. Der hat aber nur in Ansätzen mit der Nicola und ihrem Leben zu tun.

Miko: Wir wollen nicht den anklagenden Zeigefinger heben. Das würde bei den Leuten nur bewirken, dass sie sich letztlich verschließen. Film und Kunst haben die Möglichkeit, auf subkutane emotionale Art und Weise zu öffnen. Es wäre sonst zu einfach. Dieses einzelne Arschloch auf der Leinwand, der ist schuld, und ich bin aus dem Schneider. Gerade dadurch, dass man die Geschichte einer Familie erzählt, gibt man dem Publikum die Möglichkeit nachzudenken: Wie läuft das eigentlich in meiner Familie?

Drassl: Und wie gehe ich mit meinen Verletzungen um? Ich finde es schön, dass wir Fiktion machen. Die Wahrheit wäre nur eine Form von Schutz für die Zuseher. Dann könnten sie die Geschichte am Ende in ein Paket stecken und der Besitzerin zurückgeben. Aber so hat es plötzlich mit einem selbst zu tun.

Werdenigg: Ich würde es als sinnlos empfinden, die Wahrheit eins zu eins in einem Spielfilm abzubilden. Da hätte ich nie mitgemacht. Ich wollte kein Biopic und keine Dokumentation. Der Film zeigt auch keine expliziten Übergriffe.

Miko: Das würde nur einen bestimmten Voyeurismus bedienen.

Drassl: So bleibt dem Zuschauer Raum zum Nachdenken. Was ist jetzt passiert? Man muss es sickern lassen.

"Wir wollen nicht den anklagenden Zeigefinger heben", sagt Lukas Miko.
Foto: STANDARD/Regine Hendrich

Bauer: Die Andrea Weingartner hat wesentlich mehr Zweifel an der Veröffentlichung des Artikels, als es Nicola je hatte.

Drassl: Im Unterschied zur Nicola hat die Andrea mit ihrer Familie nie über die Vorfälle geredet. Geht sie damit also raus oder nicht? Das hat ja nicht nur mit ihr selbst, sondern auch mit der Familie zu tun. Natürlich ist das ein dramaturgisch wichtiger Punkt.

Miko: Auch für den Journalisten steht eine gute Story auf dem Spiel. Dann stellt sich die Frage: Dränge ich jetzt zu etwas oder nicht? Respektiere ich ihre Grenze oder nicht? Akzeptiere ich einen Rückzug, obwohl ich jetzt schon so viel Zeit investiert habe?

Drassl: Guter Journalismus pusht in so einem Fall nicht.

Werdenigg: Ich habe das auch anders erlebt. Medien, die von mir Kontakte zu anderen Betroffenen wollten. Je jünger, desto besser. Da habe ich nicht mitgemacht, das ist der Missbrauch des Missbrauchs. Ich bin ja keine Zuhälterin von Betroffenen.

Bauer: Mit der Erfahrung der vergangenen Jahre würde ich Betroffenen eher vom Gang an die Öffentlichkeit abraten. Das war schon alles wild. Man kann die Leute nicht ins Verderben reiten. Story hin oder her.

Werdenigg: Viele Betroffene, die sich bei mir melden, haben das Trauma nicht aufgearbeitet. Es nagt noch. Oft ist noch das Gefühl vorhanden, sich rächen zu wollen. Diese Leute sollten nicht nach draußen gehen, sie sind nicht reif dafür.

Drassl: Du redest lieber über die anderen als über dich selbst. Ich denke, du hast das für die kommenden Generationen gemacht. Damit alles besser wird. Das war dein Fokus. Deshalb hast du das alles eingesteckt. (Protokoll: Philip Bauer, 20.1.2024)