Er sei mit Freunden unterwegs gewesen, als Unbekannte am 14. Jänner laut an seine Tür geklopft und anschließend Zettel mit handschriftlichen Beleidigungen zurückgelassen hätten – darunter "Wehrdienstverweigerer" und "Provokateur“. Das erzählt der Investigativjournalist Jurij Nikolow dem STANDARD. Wenige Minuten später wurde ein Video des Vorfalls auf dem regierungsfreundlichen Telegram-Kanal "Kartochny Ofis" veröffentlicht, wo behauptet wurde, dass es sich bei den Männern um Militärs gehandelt habe, die dem Journalisten einen Einberufungsbescheid überbringen wollten. "Als ich nach Hause kam, war natürlich niemand mehr da", sagt Nikolow. Erschreckt hätten die Männer daher nur die Nachbarn und seine Mutter, die aufgrund ihrer Krebserkrankung derzeit bei ihm wohnt.

Wolodymy Selenskyj im Fernsehen
Immer weniger Menschen in der Ukraine vertrauen auf die Dauerberichterstattung im Fernsehen – gleichzeitig werden Reporter von Regierungskreisen unter Druck gesetzt.
IMAGO/ZUMA Wire

Der Vorfall kommt, nur Tage nachdem sich Nikolow in einem Interview kritisch gegenüber Selenskyj äußerte. "Ich habe unter anderem gesagt, dass Wolodymyr Selenskyj seine Aufgaben als Oberbefehlshaber im Hinblick auf die Mobilisierung der Bevölkerung meidet. Meiner Meinung nach schob er dieses Problem auf General Saluschnyj und andere Beamte ab", so der Journalist. Der Telegram-Kanal "Joker" deutete in einem Posting an, dass der Angriff auf den Journalisten eine Vergeltung für die kritischen Bemerkungen über das Staatsoberhaupt war.

"Bei dem Vorfall handelte es sich um eine Provokation, die zum einen darauf abzielte, mich zu diskreditieren, den Eindruck zu erwecken, ich würde mich dem Wehrdienst entziehen", so Nikolow. "Vielleicht wollte man mir auch einfach Angst machen, damit ich meine Aktivitäten einstelle, die eng mit der Untersuchung der Korruption seitens der Behörden, einschließlich des Präsidialamtes, verbunden sind." Nikolow ist einer der Mitbegründer des Investigativmediums "Naschi Hroshi" und hat 2023 unter anderem Korruptionsfälle im Verteidigungsministerium aufgedeckt. Die Recherchen führten zum Rücktritt des damaligen Verteidigungsministers Oleksij Resnikow.

"Informationsarmee"

Sowohl Journalistenorganisationen in der Ukraine als auch die NGO Reporter ohne Grenzen schlagen nun Alarm. Denn in den vergangenen Wochen kam es immer wieder zu Einschüchterungsversuchen und Drohungen gegenüber Journalisten. Zwei Tage nach dem Vorfall mit Jurij Nikolow teilte Denys Bihus, der Direktor des investigativen Mediums "Bihus.Info", mit, dass Mitglieder der Redaktion über einen längeren Zeitraum überwacht worden sein sollen, nachdem der Youtube-Kanal "Narodna Pravda" ein Video veröffentlicht hatte, das Mitarbeiter des Unternehmens beim angeblichen Drogenkonsum während einer Neujahrsparty zeigt. Einige der darin verwendeten Mitschnitte sollen aus abgehörten Telefongesprächen stammen, die bereits Monate zurückliegen.

Bei den genannten Portalen und anonymen Kanälen des Nachrichtendienstes Telegram handle es sich um eine "Informationsarmee" zur Bekämpfung interner Gegner der derzeitigen Regierung oder ihrer Kritiker, erklärte Natalja Ligatschowa, Chefredakteurin der ukrainischen NGO Detector Media. Vieles deute darauf hin, dass diese Onlinekanäle mit dem Präsidialamt in Verbindung stehen. Die Medienexpertin Irina Semljana von der NGO IMI – Institut for Mass Information spricht bei der aktuellen Entwicklung von einem "sehr schlechtes Zeichen für die Ukraine und für ukrainische Journalisten". Auch andere Journalisten und Medien hätten in den vergangenen Monaten und Wochen von Einschüchterungen berichtet. "Das letzte Mal, dass wir uns an diese Art von Druck, diese Art von Provokation gegenüber Journalisten erinnern, war während der Zeit unseres Ex-Präsidenten Janukowitsch", sagt sie dem STANDARD – betont aber, dass es die in der Ukraine in den vergangenen Jahren hart erkämpfte Presse- und Meinungsfreiheit auch weiterhin gibt.

"Telemarathon"

In einer Erklärung forderte Mediarukh, ein Zusammenschluss von Medienunternehmen und -beobachtern, den Präsidenten des Landes am Mittwoch auf, die Angriffe "entschieden zu verurteilen" und die Kontrolle über die Ermittlungen zu übernehmen, um die Schuldigen zu ermitteln. "Unbekannte Angreifer versuchen, ukrainische Journalisten als 'Feinde des Volkes', russische Agenten oder Personen mit Drogenabhängigkeit darzustellen, um ihre professionelle Arbeit zu diskreditieren", heißt es in dem Schreiben.

Noch am Tag der Veröffentlichung erwähnte Selenskyj in seiner abendlichen Ansprache, dass jeder Druck auf Journalisten inakzeptabel sei. "Wir hatten deutlichere Worte von ihm erwartet", erklärt Irina Semljana. "Ich glaube, er hat das nur gesagt, weil er etwas sagen musste." Sie erinnert an ein Statement aus dem Präsidialamt, nachdem Selenskyj 2019 zum Präsidenten ernannt worden war: Man brauche keine Journalisten, sondern werde direkt mit der Bevölkerung kommunizieren, hieß es damals.

Dass die Regierung nach bald zwei Jahren Krieg noch immer am "Telemarathon" festhalte, stelle mittlerweile ein großes Problem für den Journalismus und die Gesellschaft dar, so Semljana. Wer seit Kriegsbeginn durch die Sender zappt, sieht auf den größten TV-Kanälen des Landes dasselbe Programm, das auch eine Plattform für die Regierung darstellt. "Der Telemarathon ist eine Art Informationskonzentration der Regierung, und die Regierung nutzt ihn, um für sich selbst zu werben", sagt Semljana. "Aber immer weniger Menschen schauen den Telemarathon an, weil es an kritischen Informationen mangelt und man den Leuten nicht die richtigen Hoffnungen macht."

Der Anteil jener, die den Nachrichten im Telemarathon vertrauen, sank laut dem Internationalen Institut für Soziologie in Kiew von 68 Prozent im Mai 2022 auf 43 Prozent im Dezember 2023. Dagegen beziehen immer mehr Menschen ihre Nachrichten über Telegram-Kanäle, wo es eine Menge Fake News gibt. (Daniela Prugger aus Kiew, 21.1.2024)