Neos-Chefin Meinl-Reisinger
Beate Meinl-Reisinger und ihre Neos sind schon seit September bereit für den Wahlkampf.
Heribert Corn

Beate Meinl-Reisinger sitzt im Taxi, auf ihrem Schoß ihre Handtasche, in die sie Stichwortkarten gesteckt hat, die sie nicht brauchen wird. Die Neos-Chefin soll gleich vor 150 Unternehmern und Sympathisanten eine Rede halten. Vorbereitung benötigt sie keine. Nicht weil Meinl-Reisinger auf Vorbereitung keinen Wert legen würde. Es ist ihr Leben, das sie auf Wahlkampfreden vorbereitet hat. Vermutlich würde sie bei einem Glas Weißwein mit einer Freundin auch nicht viel anderes sagen als später auf der Bühne.

Meinl-Reisinger ist rastlos und energisch, für den Wahlkampf sind die Neos seit vergangenem September bereit. Die Partei bräuchte zwei Wochen Vorlauf, um Maschinerie und Kampagne gänzlich hochzufahren. Das wird zumindest behauptet. Die Neos wollen startklar sein, jederzeit, schließlich geht es darum, vielleicht bald zu regieren. Und ein bisschen geht es auch darum, die Demokratie zu retten.

Irgendetwas "Verrücktes"

Fürs Erste ist Meinl-Reisingers Ziel jetzt aber eine Rooftop-Bar mit Blick über die Wiener Altstadt, wo sie über die Zukunft des Landes und ihrer Partei sprechen soll. Das hat sie an diesem Tag auch zuvor schon zweimal. "Vielleicht lasse ich mich zum 50. Geburtstag tätowieren", sagt Meinl-Reisinger zu ihren Mitarbeiterinnen, die auf der Rückbank des Taxis neben ihr sitzen. Alle lachen, am lautesten Meinl-Reisinger selbst. Irgendetwas "Verrücktes" müsse man doch machen, wenn man älter werde. Im April wird Meinl-Reisinger 46. Sie wird dann genauso lange die Neos anführen, wie ihr Vorgänger Matthias Strolz es tat, als er zurücktrat und die Politik verließ.

In der Bar ist Meinl-Reisinger sofort in ihrem Element: Sie läuft von Grüppchen zu Grüppchen, lacht, erzählt, hört zu. Auch unter politischen Gegnern gilt Meinl-Reisinger als Alleskönnerin. Selbst in der FPÖ finden sich Männer, die ihr Respekt entgegenbringen. Überspitzt könnte man sagen, es ist Meinl-Reisingers Fluch und Segen: Viele bewundern sie, wenige wählen sie.

Ausbleibender Höhenflug

"Manche sagen, es ist keine gute Zeit für Liberale", ruft Meinl-Reisinger ins Mikrofon auf der Bühne der Dachgeschoß-Bar. Sie spricht erst seit ein paar Minuten, aber hat sich längst in Rage geredet. Um ihre persönliche Wahlkampfmaschinerie hochzufahren, braucht Meinl-Reisinger keinen Vorlauf. "Ich glaube, es ist die beste Zeit für Liberale", sagt sie mit fester Stimme. Daran wollen in diesem Raum alle glauben – und niemand versteht, warum es bisher nicht besser klappt.

Bei der vergangenen Wahl 2019 bekamen die Neos 8,1 Prozent der Stimmen. Seitdem ist ziemlich viel passiert, das einer liberalen Mitte-bis-Mitte-links-Partei zugutekommen könnte: (1) Der bürgerliche Politstern Sebastian Kurz hat die Politik verlassen. (2) Die ÖVP kämpft laufend mit neuen Ermittlungen und Affären. (3) Die SPÖ hat ihre erste Parteichefin abgesägt und ist deutlich nach links gerückt. (4) Die Grünen reiben sich kontinuierlich in der Regierung auf. Meinl-Reisinger formuliert es gerne so: "Die Mitte ist verlassen."

Aber die Neos, die genau da hineingrätschen könnten? Sie stehen in Umfragen seit Jahren kontinuierlich bei rund zehn Prozent. Es ist ein leichtes Plus zur Wahl, doch auch weit weg von einem Höhenflug.

Neos-Chefin Meinl-Reisinger
Meinl-Reisinger findet, jetzt sei die "beste Zeit für Liberale".
Heribert Corn

Nicht zu bremsen

Meinl-Reisinger ist auf der Bühne inzwischen nicht mehr zu bremsen. Sie trägt einen knallpinken Blazer und große, knallpinke Ohrringe – alles im Farbton ihrer Partei. Neuer Generationenvertrag, hohe Staatsausgaben, Humanismus, Selbstbewusstsein, Abwehrkampf gegen die illiberalen Kräfte – also: die FPÖ. Sie verwendet alle Signalwörter, die auf den Stichwortkarten stehen könnten, die sie in ihrer rechten Hand hält, denen sie aber keine Beachtung schenkt. "Das meiste davon sagt sie seit mehr als einem halben Jahr so", sagt jemand von den Neos, der ihr zuhört. "Da draußen bekommt es trotzdem kaum wer mit."

In den Strategieabteilungen anderer Parteien wurde lange Zeit die Erklärung verbreitet, dass das größte Problem der Neos Sebastian Kurz sei. Wäre der junge, frische Bürgerliche weg, könnten die schicken Liberalen reüssieren. So war es aber nicht. Die Neos selbst erklären sich das so: Bei den Wahlen 2013, 2017 und 2019 hatten sie jedes Mal hohe Stimmzugewinne von der ÖVP. Soll heißen: Die liberalen Bürgerlichen, die wählen die Neos längst. Jetzt ist dort nichts mehr zu holen. Die wahren Konkurrenten der Pinken heißen heute SPÖ, Grüne und neuerdings wohl Bierpartei.

Meinl-Reisinger versucht inzwischen, die Bar auf Wahlkampf einzuschwören. "Das hier ist ‚preaching to the converted‘", sagt sie. Es liege jetzt an allen Anwesenden, andere zu überzeugen. Im Publikum sitzen auch Meinl-Reisingers Eltern – beide studierte Mediziner, die von ihrer Tochter als "bürgerliche Grüne" bezeichnet werden – und klatschen.

Vielbeschäftigt

Meinl-Reisinger wird in Wien geboren, geht ins traditionsreiche Gymnasium Wasagasse, studiert Jus und European Studies. Danach wechselt sie nach Brüssel und wird Assistentin des ÖVP-Politikers Othmar Karas, später politische Referentin in der ÖVP Wien. Wobei sie nicht müde wird, zu betonen: ÖVP-Parteimitglied war sie nie. Bei ihrer ersten Wahl habe sie das Liberale Forum gewählt. Die Neos hat sie später mitbegründet. Sie wird zuerst Wien-Chefin, 2018 übernimmt sie die Bundespartei.

Am Nachmittag vor ihrem Auftritt in der Hotelbar sitzt Meinl-Reisinger in ihrem Büro und blättert sich durch ihre "Postmappe", in die ihr Mitarbeiter wichtige E-Mails ausgedruckt hineinlegen. Jemand will einen Praktikumsplatz, die chinesische Botschafterin beschwert sich über einen Neos-Mandatar, der dem taiwanesischen Wahlgewinner gratuliert hatte. Meinl-Reisinger notiert, welcher Kollege das Antwortschreiben verfassen soll. "Ich habe super Leute", sagt sie. Aber jetzt habe sie etwas ganz allein gemacht. Im März wird ihr erstes Buch, Wendepunkt, erscheinen. "Da geht es einmal nur um meine ganz eigenen Ideen und Positionen", sagt sie.

Meinungsstarke Männer

In der Wirkung Meinl-Reisingers ist ein ungewöhnliches Phänomen erkennbar: Sie wird in ihrer eigenen Partei fast härter kritisiert als in anderen, gleichzeitig treten die Neos nach außen hin immer geschlossen auf. Offene Kritik gibt es kaum. Parteiintern wird Meinl-Reisinger ihre forsche Art vorgeworfen, sie reiße Themen an sich und lege zu wenig Fokus auf Wirtschaftsfragen. Die Neos, finden manche Neos, würden zu viel mit Gesellschaftspolitik in Verbindung gebracht. Es ist das alte Dilemma der Liberalen: Den Linken sind sie zu neoliberal, den Neoliberalen zu links.

Umstritten ist Meinl-Reisinger dennoch nicht. Zumindest derzeit nicht: "Sollte die Wahl nicht gut ausgehen, wer weiß, was dann passiert", sagt ein Neos-Funktionär. Mit Sepp Schellhorn kehrt nun ein Politiker in den pinken Parlamentsklub zurück, der für seine starken Meinungen bekannt ist. Mit Strolz möchte nun auch ihr Vorgänger wieder an die Partei andocken. "Wir haben sicherlich viele Männer mit großen Egos", sagt eine Pinke.

Neos-Chefin Meinl-Reisinger
"Ich habe ein höheres Energielevel als die meisten anderen", sagt Meinl-Reisinger über sich selbst.
Heribert Corn

Die pinke "Reformagenda"

Menschen, die mit Meinl-Reisinger gearbeitet haben, sprechen in den höchsten Tönen von ihr, sagen aber auch: Es sei kaum möglich, ihr Pensum zu halten. "Ich habe ein höheres Energielevel als die meisten anderen", sagt Meinl-Reisinger selbst. Sie ist mit einem Juristen verheiratet, mit dem sie drei Töchter hat. Die Jüngste ist vier Jahre alt, die Älteste ein Teenager.

Meinl-Reisinger sitzt an ihrem Besprechungstisch im Büro. Die Postmappe hat sie erledigt, neben ihr steht eine Dose Red Bull. Sie sehe durchaus gute Chancen, dass die Neos in die nächste Regierung kommen. "Aber wir geben uns sicher nicht billig her", sagt sie. Bald möchte sie eine "Reformagenda" vorlegen, einen pinken Forderungskatalog für Regierungsverhandlungen. Wichtige Punkte seien eine Pensionsreform, dass die Steuerquote sinkt, Schulautonomie, Sauberkeit in der Politik, so etwas. "Aber ich bin nicht bereit, schon jetzt in Verhandlungen zu treten", sagt sie. "Erst einmal geht es darum, was wir wollen."

Worauf sich Meinl-Reisinger auch nicht einlassen möchte, ist die "Alle gegen Kickl"-Mentalität. Man schenke dem extrem rechten Populisten viel zu viel Aufmerksamkeit, ist sie überzeugt. Und bei den meisten Neos lebt die Hoffnung: Vielleicht seien doch 13 Prozent drin bei der kommenden Wahl. Gar 15?

Bis Meinl-Reisinger 50 wird, werden jedenfalls noch mehr als vier Jahre vergehen, in denen viel Verrücktes passieren kann. Womöglich braucht sie gar kein Tattoo. (Katharina Mittelstaedt, 21.1.2024)