Wirtschaftlich schwierige Zeiten, riesige Gegensätze zwischen Arm und Reich, anhaltende Streiks. Amerika uninteressiert an Europa, tiefes Misstrauen gegenüber Russland, wenig Gemeinsamkeit mit dem Nachbarn Frankreich. Die britische Politik im Umbruch, der konservative Premierminister unbeliebt in der eigenen Partei, der Oppositionsführer ohne jede ministerielle Erfahrung.

Eine Beschreibung der derzeitigen Zustände im Königreich? Ja, auch das. Vor allem aber die Situation, mit der sich die Briten und ihr König George V. vor genau hundert Jahren konfrontiert sahen. Was damals für annähernde Hysterie im Londoner Establishment sorgte, würde 2024 hingegen mit einem Achselzucken, bei vielen wohl mit Erleichterung zur Kenntnis genommen: die Berufung eines Labour-Politikers zum Regierungschef.

Unklare Verhältnisse

Der Chef der alten Arbeiterpartei, Keir Starmer, darf bei der spätestens im Herbst anstehenden Wahl laut Umfragen auf einen deutlichen Sieg und damit auf stabile Verhältnisse hoffen. Oder kommt es doch zu so unklaren Verhältnissen wie bei der Wahl im Dezember 1923?

Damals lag die konservative Regierung unter Stanley Baldwin zwar mit 38 Prozent der Stimmen klar vor Labour (31) und den Liberalen (30), verlor aber ihre Mandatsmehrheit im Unterhaus. Der Abstimmungsniederlage im Parlament im Jänner 1924 musste zwingend der Regierungsauftrag für den Oppositionsführer folgen – oder etwa nicht? In panischer Angst vor der vermeintlichen Katastrophe einer sozialistischen Regierung machten im konservativen Londoner Bürgertum allerlei Planspiele die Runde, bis hin zu einer Technokraten-Regierung unter einem früheren liberalen Finanzminister.

Ramsay MacDonald erhielt eine
Ramsay MacDonald erhielt eine "faire Chance".
imago/UIG

Alle haarsträubenden Szenarien scheiterten einerseits an den beiden liberalen Kriegspremiers Herbert Asquith und David Lloyd George, die beide am liebsten selbst in die Downing Street zurückkehren, ganz bestimmt aber keine Koalition mit Konservativen oder Labour eingehen wollten. Vor allem aber hatte Ramsay MacDonald im König einen unverhofften Fürsprecher: Die Labour-Party müsse "eine faire Chance" erhalten, fand der 58-Jährige, bestellte den nur ein Jahr Jüngeren in den Buckingham Palace und ernannte ihn am 22. Jänner 1923 zum Premierminister. Da habe sich der als barsch und langweilig geltende Monarch "wie ein Cricket-Schiedsrichter" verhalten und die Nationalidee des Fairplay aufrechterhalten, urteilt der Autor Andrew Gimson in seinem vergnüglichen Royals-Buch "Gimson's Kings and Queens".

Großbritanniens erste Labour-Regierung im Jahr 1924: Premier Ramsay MacDonald sitzt im grauen Anzug in der ersten Reihe.
Großbritanniens erste Labour-Regierung im Jahr 1924: Premier Ramsay MacDonald sitzt im grauen Anzug in der ersten Reihe.
imago/United Archives International

Normaler Vorgang

Sollte hingegen der derzeitige König Charles III. in diesem Jahr Keir Starmer zum siebten Labour-Premier Großbritanniens ernennen, wäre das ein gänzlich normaler Vorgang ohne jede Kontroverse. Auch dürfte sich Labour, wenn es denn zu einer eigenen Mehrheit doch nicht reicht, im Unterhaus auf die reibungslose Unterstützung durch die Liberaldemokraten, womöglich sogar die Nationalistenparteien, verlassen können. Schließlich besteht bei den Briten vor allem der sehnliche Wunsch, die Tories nach vierzehn Amtsjahren endlich loszuwerden.

Ins Amt käme 2024 mit Starmer ein Mann aus stolzer Labour-Familie – nicht umsonst ließen die Eltern den heute 61-Jährigen auf den Namen Keir taufen, eine Hommage an den Parteigründer Keir Hardie. Doch verfügt er über lediglich neun Jahre Parlamentserfahrung, machte vielmehr nach hervorragenden Studienabschlüssen in Leeds und Oxford Karriere als Spitzenjurist, zuletzt als Leiter der englischen Staatsanwaltschaft. Hingegen kämpfte sich der als uneheliches Kind einer Dienstmagd geborene MacDonald mühsam nach oben, verdiente sein Geld als Landarbeiter und Volksschullehrer, musste ein kurzes Studium am heutigen Londoner Birkbeck-College für Berufstätige wegen Erschöpfung abbrechen.

In der Arbeiterbewegung um die Jahrhundertwende 1899/1900 suchte der Schotte den Ausgleich zwischen den diversen Gruppierungen, zog schließlich mit Hardie 1906 ins Unterhaus ein, beerbte diesen bald als Vorsitzenden – und trat 1914 von diesem Amt zurück, weil er die Unterstützung seiner Partei für den Eintritt Großbritanniens in den Ersten Weltkrieg nicht mittragen mochte.

Misstrauensvotum nach acht Monaten

Was ihm in den darauffolgenden Jahren in Land und Partei Feindseligkeit, ja 1918 auch den Mandatsverlust einbrachte, bedeutete im Großbritannien der 1920er-Jahre ungeahnte Popularität: Zunehmend setzte sich in der Bevölkerung das Gefühl durch, das gewaltige Blutopfer des "Großen Krieges" sei umsonst gewesen. Abrüstung und eine rasche Revision des Versailler Vertrages waren das Gebot der Stunde – und MacDonald dafür der richtige Mann.

Ramsay MacDonald 1929 nach seiner erneuten Wahl zum Premier
Ramsay MacDonald 1929 nach seiner erneuten Wahl zum Premier
imago stock&people

Seiner Regierung der Anfänger gelang in den wenigen Monaten ihres Bestehens nur wenig, doch ein außenpolitischer Erfolg gehörte dazu: Der Dawes-Plan zur Regelung deutscher Reparationszahlungen, vor allem an Frankreich, wäre wohl ohne die geschickte Vermittlung des auch als Außenminister amtierenden MacDonald nicht Wirklichkeit geworden. Innenpolitisch brachte Labour eine Reform des sozialen Wohnungsbaus und eine Verlängerung der Schulpflicht um drei Jahre bis zum 14. Lebensjahr auf den Weg. Ein Misstrauensvotum machte nach acht Monaten der Regierung den Garaus, die Wahl im Oktober 1924 gewannen die Tories.

Dass man sich ihres ersten Premierministers in der Labour-Party höchstens mit gemischten Gefühlen erinnert, hat mit späteren Entwicklungen zu tun: In der Weltwirtschaftskrise verweigerte sich die eigene Partei ihrem 1929 wieder zum Premierminister gewählten Chef, als die Regierung schmerzliche Kürzungen verkünden musste. Der König überredete MacDonald zu einer "Nationalen Regierung" mit den Konservativen, als deren nominelle Führungsfigur er bis 1935 im Amt blieb. Von seiner Labour-Party war er als "Verräter" ausgeschlossen worden.

33 Jahre Labour in der Downing Street

MacDonald sei ihm von allen seinen Premierministern der liebste gewesen, gab der König gegen Ende seines Lebens zu Protokoll. Georges Tod im Januar 1936 stürzte den gesundheitlich ohnehin bereits angeschlagenen Politiker in tiefe Depressionen, von denen er sich bis zu seinem eigenen Tod nur ein Jahr später, 71-jährig, nicht erholte.

Keir Starmer könnte der nächste Labour-Premier werden.
Keir Starmer könnte der nächste Labour-Premier werden.
EPA

Im Lauf des Jahrhunderts, seit der steinreiche Aristokrat George dem unehelichen Arbeiterkind eine "faire Chance" geben wollte, hat die Labour-Party lediglich 33 Jahre lang den Regierungschef gestellt. Was die Verweildauer in der Downing Street angeht, liegt Ramsay MacDonald mit insgesamt knapp sieben Jahren hinter Tony Blair (1997–2007) und Harold Wilson (1964–70, 74–76) an dritter Stelle. Aus Keir Starmers Umfeld heißt es schon jetzt: Nur mit mindestens zwei Legislaturperioden sei der Schaden der vergangenen Tory-Regierungen zu beheben. (Sebastian Borger aus London, 22.1.2024)