Vor wenigen Jahren mussten sie noch Strafe zahlen, wenn sie mehr als ein Kind bekamen. Jetzt sollen Paare am besten drei haben. Denn China fehlt der Nachwuchs, und deshalb rufen Politiker Frauen dazu auf, ihre Familie zu vergrößern. Aber diese machen nicht so richtig mit, wie Journalistinnen im "Wall Street Journal" schreiben.

Die Gründe dafür sind unterschiedlich. Die einen sehen "ihre Aufgabe" mit einem Kind erfüllt, ein zweites wäre ihnen auch zu teuer. Die anderen sind schlicht und einfach zufrieden mit ihrem kinderlosen Leben. Sie investieren ihre Zeit lieber in ihren Beruf. Die Weigerung der Frauen "führte zu einer Krise der Kommunistischen Partei, die unbedingt mehr Babys braucht, um die alternde Bevölkerung Chinas zu verjüngen", konstatieren die Autorinnen des Artikels, Liyan Qi und Shen Lu. Staatschef Xi Jinping fordert eine "neue Kultur der Ehe und des Gebärens". Um das Kinderkriegen attraktiver zu machen, startete die Regierung Kampagnen und verspricht finanzielle Unterstützung.

Als China im Jahr 2015 die Ein-Kind-Politik aufgab, war die Erwartung ein Babyboom. Doch der blieb aus. Vielmehr passierte das Gegenteil: Immer weniger Kinder kamen zur Welt. Während 2013 noch mehr als 16 Millionen Babys geboren wurden, waren es 2023 nur noch neun Millionen. Die aktuellen Zahlen wurden vor wenigen Tagen veröffentlicht. Die Geburtenrate liegt derzeit bei circa einem Kind pro Frau – 2,1 Kinder pro Frau sind notwendig, damit die Zahl der Menschen in einem Land stabil bleibt. Laut Prognosen eines australisch-chinesischen Forschungsteams wird sich die Bevölkerung Chinas bis zum Ende des Jahrhunderts mehr als halbieren, von aktuell 1,4 Milliarden auf knapp 600 Millionen. Auch die Vereinten Nationen gehen in einem "moderaten" Szenario von weniger als 800 Millionen Menschen im Jahr 2100 aus.

Aktuell leben rund 1,4 Milliarden Menschen in China – um das Jahr 2100 könnte sich die Zahl laut Vorhersagen mehr als halbiert haben.
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Natürlich wird auch der Anteil der älteren Menschen in der Bevölkerung immer größer. Medien schreiben von einer "demografische Krise" und davon, dass "die Uhr tickt". Die "Populationsbombe" sei dabei zu explodieren. China könnte "altern, noch bevor es reich wird". Doch wie schlimm ist die Entwicklung tatsächlich?

Weltweite Entwicklung

"Ich bin mir gar nicht sicher, ob das überhaupt ein Problem ist", meint der Demograf Wolfgang Lutz. Der Gründer des Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital ist auch immer wieder als Gastprofessor in Schanghai tätig und sagt: "In China läuft die Entwicklung im Prinzip auch nicht anders ab als in anderen Ländern." In Europa und Nordamerika habe der Geburtenrückgang um 1900 eingesetzt, in Lateinamerika und Ostasien in den 1960er- und 1970er-Jahren. In Afrika bringen Frauen derzeit noch ungefähr vier Kinder zur Welt, "aber auch dort beginnt es schon zu sinken". Derzeit sei weltweit ein "demografischer Übergang" zu beobachten: "Die hohen, unkontrollierten Geburtenraten werden von einer geplanten Familiengründung abgelöst."

"In China läuft die Entwicklung im Prinzip auch nicht anders ab als in anderen Ländern." (Wolfgang Lutz, Demograf)

In Österreich hätten Frauen im 19. Jahrhundert noch fünf oder mehr Kinder geboren. Während man damals die Familiengröße einfach dem Schicksal überlassen hatte, fingen die Menschen irgendwann an, sie zu planen. "Das war gewissermaßen eine gesellschaftliche Innovation, die sehr stark mit der Alphabetisierung der Bevölkerung zusammenhing." Insbesondere die Bildung der Frauen spiele für sinkende Geburtenraten eine Rolle. Aber auch der Wunsch, Kindern ein gutes Leben bieten zu können, sei maßgeblich: "Das funktioniert bei zwei oder drei Kindern leichter als bei sechs", sagt Lutz.

Kleinfamilie als soziale Norm

In China, das als dichtbesiedeltes Land immer wieder mit Hungersnöten zu kämpfen hatte, beschloss die Politik in den 1970er-Jahren die Ein-Kind-Politik. "Dort hat sich die Idee durchgesetzt, dass das Bevölkerungswachstum eine der größten Gefahren für den Wohlstand und die Sicherheit der Bevölkerung darstellt." Aber die Ein-Kind-Politik sei höchstwahrscheinlich nicht der einzige Grund für die sinkende Geburtenrate gewesen, sagt Lutz. "Es gibt prominente Wissenschafter, die sagen, dass sie ohne dieses rigorose Programm vermutlich genauso schnell runtergegangen wäre." Was dafür spreche: In Japan oder Südkorea lief es ähnlich ab. "Dort gab es keine Zwangsmaßnahmen, und die Geburtenrate ist dennoch gesunken."

In staatlichen Medien sind Aufrufe zu sehen, zur "Verjüngung der Nation" beizutragen. Für viele Paare ist die demografische Lage des Landes aber noch lange kein Grund, Kinder zu bekommen.
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Ein Spezifikum ist in China allerdings: Die Ein-Kind-Politik habe die Vorstellung von der idealen Familie entscheidend geprägt, sagt Lutz. Während europäische Umfragen zeigen würden, dass der Wunsch nach zwei Kindern nach wie vor sehr stark ist, habe sich das in China "massiv geändert". Befrage man junge Chinesinnen und Chinesen, würden vier von fünf sagen, dass sie ein Kind optimal finden. "Weil sie nichts anderes gesehen haben, nichts anderes kennen." In der Fachsprache wird das als "low fertility trap hypothesis" bezeichnet: "Die Ein-Kind-Familie ist die Normalität, die es umzusetzen gilt." Kleine Familien wurden also zur sozialen Norm.

Relativ überraschend kommt der Rückgang der Geburtenrate übrigens in Ländern, die vormals kein Problem mit Fertilität hatten, wie etwa Frankreich oder Norwegen. Gerade nordische Länder, die lange Zeit stabil bei zwei Kindern pro Frau lagen, gelten als besonders kinderfreundlich. "Dort sagt man: Durch Kinder soll das Haus mit Leben gefüllt werden." Dass sich nun auch dort immer mehr Paare dazu entscheiden, kinderlos zu bleiben, könnte nicht zuletzt mit dem Aufkommen der Smartphones zusammenhängen, mutmaßt Lutz. Indem sie in den sozialen Medien unterwegs sind, ist das Bedürfnis der Menschen nach Kontakt oft erfüllt.

Die Folgen

Welche Folgen es für die Wirtschaft hat, wenn Chinas Bevölkerung schrumpft und immer älter wird, hat Demograf Lutz mit einem Team erforscht. Kurz zusammengefasst sagt er: Es ist womöglich alles gar nicht so schlimm wie oft von Politikern und in den Medien dargestellt. Durch die niedrige Geburtenrate werde es in China zwar künftig weniger Arbeitskräfte geben – diese seien jedoch viel besser ausgebildet. Während es unter den Älteren noch viele Analphabeten gebe, genieße fast die Hälfte der jungen Menschen eine höhere Bildung nach der Schule.

Durch eine Simulation versuchten Lutz und seine Kollegen festzustellen, wie sich unterschiedliche Geburtenraten in Zukunft auswirken würden. In einem Szenario gingen sie von 0,8 Kindern pro Frau aus, in einem anderen von 1,7. Dabei stellten sie fest: Egal welches Szenario nun eintreten möge, "der Anteil der hochgebildeten Bevölkerung unter den Arbeitenden dürfte 2040 weit größer sein, einfach weil die bereits besser gebildeten Kohorten die Alterspyramide hinaufwandern".

Seit 2021 dürfen Paare nicht nur zwei, sondern auch drei Kinder bekommen. Das ließ die Geburtenzahl allerdings nur kurzfristig steigen.
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"Die Tatsache, dass es immer weniger junge Menschen gibt, kann also kompensiert werden durch die Tatsache, dass sie immer besser ausgebildet und dadurch produktiver sind." Werde dies einbezogen, heißt es in dem Bericht der Wissenschafter, zeige sich eine "optimistischere Zukunft" für China, als viele Prognosen besagen. Durch die Automatisierung könne es zudem sein, dass Jobs wegfallen, gibt Lutz zu bedenken. "Und da ist es vielleicht sogar ein Segen, dass es weniger junge Menschen gibt, weil man Arbeitslosigkeit vermeidet."

Die Erkenntnisse würden jedoch nicht bedeuten, dass der demografische Wandel ganz ohne Probleme verlaufen wird, halten die Experten fest. Wird die Bevölkerung immer älter, müsse das Pensionssystem reformiert werden. In China ist das Pensionsantrittsalter vergleichsweise niedrig, es liegt bei 60 Jahren für Männer und 55 Jahren für Frauen. Außerdem gelte es sicherzustellen, dass das höhere Bildungsniveau auch zu einer höheren Produktivität führt, so die Forscher. Dafür müssten die Menschen mit den nötigen Fähigkeiten und Fertigkeiten ausgestattet werden. Und möglichst viele bräuchten Zugang zu guter Bildung.

"Panik bekommen"

Warum aber ist Chinas Politik so pessimistisch, wenn Fachleute diese Einschätzung nicht teilen? "Politiker denken meist schwarz-weiß", vermutet Lutz. So wie in China zunächst "in übertriebenem Maße" die Geburten reguliert worden seien, habe man "jetzt Panik bekommen, das Ruder herumzureißen". Schließlich spiele auch Nationalismus eine Rolle und der Wille, dass die "eigenen Leute" möglichst viel Nachwuchs hervorbringen. Ein wachsendes Land werde nicht zuletzt auch als Zeichen für Prosperität gesehen, meint der Demograf.

Er sagt: Die chinesische Regierung meint, viel Kontrolle über das Privatleben der Menschen zu haben. Doch der Einfluss des Staates bei der Familiengründung scheint gering zu sein, ebenso wie in anderen Ländern. Menschen bekommen nicht mehr Kinder, weil die Politik das will. Selbst Maßnahmen wie eine Erhöhung der Kinderbeihilfe hätten relativ geringe Auswirkungen auf die Geburtenrate. Denn: Es handelt sich beim Kinderkriegen um eine höchst private Entscheidung. Dabei spielt die eigene Situation eine Rolle, darunter auch ökonomische Erwägungen. In China seien die Mieten relativ hoch, ebenso das Schulgeld. So hoch, dass sich viele kein zweites Kind leisten können. "So hoch können die Beihilfen vom Staat kaum sein."

China ist schon länger mit einem starken Geburtenrückgang und einer Alterung der Bevölkerung konfrontiert.
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Wenn junge Menschen sich nicht sicher sein können, dass sie ihren Lebensunterhalt mit einem Kind noch bestreiten können, werde das ihre Entscheidung "ganz sicher" beeinflussen, sagt auch Xiujian Peng, die an der Victoria University in Australien zu dem Thema forscht. Auch aus den Interviews mit jungen Chinesinnen und Chinesen geht das hervor. Eine Mutter eines Dreijährigen zum Beispiel schiebt die Entscheidung für ein Geschwisterchen auf, weil ihr Restaurant pleitegegangen ist. Obwohl die Familie Erspartes habe, könne sie sich ein zweites Kind aktuell nicht leisten, sagt sie dem "Wall Street Journal". "Das Leben wird einfach immer härter und härter." (Lisa Breit, 25.1.2024)