Bild einer Gas-Piepline in Embsen, Deutschland
2023 trugen Energie und Lebensmittel ein Drittel zur Gesamtinflation bei. Dennoch argumentiert so mancher Ökonom für die Kerninflation als Berechnungsgrundlage für Lohnerhöhungen.
REUTERS/Fabian Bimmer

Die durchschnittliche Inflation der vergangenen zwölf Monate, dazu ein Teil des Produktivitätszuwachses: Die sogenannte Benya-Formel ist eigentlich unmissverständlich und vereinfachte über Jahrzehnte die jährlichen Kollektivvertragsverhandlungen der Sozialpartner.

Seit die hohe Inflation in Österreich Einzug gehalten hat, wird die nach dem früheren Gewerkschafter Anton Benya (SPÖ) benannte Formel aber zusehends infrage gestellt. Arbeitgebervertreter versuchen, mit Einmalzahlungen und alternativen Berechnungsmethoden daran zu rütteln, und auch Ökonomen namhafter Forschungsinstitute sprechen sich immer häufiger für eine zeitgemäße Anpassung der Formel aus.

Doch welche Alternativen zu der seit den 1960ern verwendeten Formel stehen zur Debatte? Und welche Effekte könnten sie auf die Kaufkraft der Menschen und die Betriebswirtschaftlichkeit der Unternehmen haben?

Die vier Vorschläge

Im Grunde wird über zwei wesentliche Stellschrauben diskutiert: das Inflationsmaß und den Betrachtungszeitraum.

1. Kerninflation statt Verbraucherpreisindex (VPI)

Bereits im Ö1-Mittagsjournal am Montag stellte Wifo-Ökonom Benjamin Bittschi klar: Bei hohen Inflationsraten ist der VPI, in dem sich die Preissteigerungen eines festgelegten Warenkorbs widerspiegeln, ungenau. "Man könnte sich zum Beispiel die Frage stellen, ob die heimische Industrie die hohen Preissteigerungen im Tourismus, die wegen der starken ausländischen Nachfrage entstehen, durch die Löhne eins zu eins weitergeben muss."

Einen Schritt weiter ging IHS-Ökonom Helmut Hofer und schlug – zum Unverständnis von so manchem – vor, die Kerninflation als Alternative zum VPI heranzuziehen. Dabei werden besonders volatile Posten des Warenkorbs herausgerechnet, zumeist Energie und Nahrungsmittel. Damit würden ausgerechnet jene Kostenfaktoren herausgerechnet werden, die zuletzt am meisten schmerzten, kam vielen als Erstes in den Sinn.

Ein Gedankengang, den auch Hofer nachvollziehen kann. "Das Problem bei der Kerninflation ist, dass man davon ausgehen muss, dass sich die Kerninflation mittel- bis langfristig ähnlich entwickelt wie die allgemeine Inflationsrate." Sei dies nicht der Fall und ausgerechnet Energie und Nahrungsmittel trügen längerfristig wesentlich zur Inflation bei, "dann ist es kein guter Indikator". Oder anders gesagt: ginge das auf Kosten der Arbeitnehmer.

Die ursprüngliche Idee hinter dem Vorschlag sei aber eine andere gewesen: "Gerade bei der Energie sind nicht die heimischen Preise die Treiber, sondern jene aus dem Ausland." Im VPI seien somit auch importgetriebene Preissteigerungen enthalten, erklärt Hofer. "Wenn der Kuchen dann kleiner wird, weil ein Stück ins Ausland wandert, muss den Unternehmen ein Teil ihres Anteils weggenommen werden, damit die Arbeitnehmer weiterhin gleich viel bekommen."

ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian am Donnerstag, 22. Juni 2023, anl. des Abschlusses des
ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian (SPÖ) zeigte sich zuletzt prinzipiell gesprächsbereit, will "die Regeln aber nicht während des Matches ändern".
APA/HELMUT FOHRINGER

Was aber würde das für Arbeitnehmer bedeuten? Nachdem die Energie- und Lebensmittelpreise wesentliche Treiber der Teuerung waren – 2023 waren sie für ein Drittel der Gesamtinflation verantwortlich –, wäre es fraglos ein Einschnitt für Arbeitnehmer gewesen, sie bei den Lohnverhandlungen unberücksichtigt zu lassen. Schließlich sind beides Güter des täglichen Bedarfs, ausgerechnet sie herauszurechnen, wäre wohl einzig einer potentiell niedrigeren Inflationsrate zuträglich, nicht aber dem Erhalt der Kaufkraft.

Vom Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) jedenfalls heißt es, man äußere sich zu einzelnen Meinungen von Ökonomen wie jenen zur Kerninflation nicht.

2. BIP-Deflator, um Importschocks abzufedern

Eine ganz ähnliche Argumentation liegt auch der Idee zugrunde, den sogenannten BIP-Deflator als Alternative zum VPI heranzuziehen. Bereits im Vorfeld der Herbstlohnrunden 2023 empfahl die Oesterreichische Nationalbank (OeNB), jenen Indikator zu berücksichtigen, der lediglich den heimischen Preisauftrieb abbildet.

Damit würden die Importpreisschocks im Zuge der Energiekrise abgefedert, gefürchtete Zweitrundeneffekte der Teuerung potentiell vermieden werden, heißt es in dem Blogeintrag vom August. Die Grundannahme hinter dem vorgeschlagenen Modell ist denkbar einfach: Es kann nur das verteilt werden, was heimische Produzenten für ihre Güter erhalten. Da wären wir also wieder beim metaphorischen Kuchen.

Besonders angetan davon zeigen sich aber nur wenige. Ja, in der Theorie sei die Idee durchaus plausibel. "In den Lohnverhandlungen halte ich es aber nicht für praktikabel", gibt Wifo-Ökonom Bittschi zu bedenken. Schließlich werde der BIP-Deflator nur vierteljährlich bekanntgegeben und zudem laufend revidiert. In den meisten Jahren mache es zudem ohnehin keinen großen Unterschied, auf Dauer hielten sich Import- und Exportschocks eher in der Waage, pflichtet auch Hofer bei.

3. Dreimonatsschnitt für schnellere Anpassung

Abgesehen von der Bemessungsgrundlage wird auch die rollierende Inflation infrage gestellt. Statt auf den Zwölfmonatsdurchschnitt zurückzugreifen, spricht sich etwa das Wifo dafür aus, lediglich die jüngsten drei Monate in den jährlichen Kollektivvertragsverhandlungen heranzuziehen. Warum? "Damit ist man viel näher am tatsächlichen wirtschaftlichen Geschehen dran", sagt Wifo-Ökonom Bittschi.

In Phasen rasch anziehender Teuerungsraten käme es zu einer schnelleren Reallohnanpassung, in Zeiten einer Rezession würden Unternehmen vor überbordenden Lohnkosten bewahrt. Wie das gelingt, zeigen Berechnungen des Wifo vom Sommer 2023. Mit einem dreimonatigen Betrachtungszeitraum anstelle der sonst üblichen jährlichen Betrachtung wären in der Herbstlohnrunde 2022 9,3 statt 6,3 Prozent die Verhandlungsbasis gewesen; in den letztjährigen Verhandlungen dafür nur 7,4 anstelle von 9,5 Prozent. Die Arbeiternehmer hätten also teilweise mehr bekommen und dann wieder weniger.

Wie sich die Reallöhne auf Basis des Wifo-Modells entwickelt hätten
Wie sich die Reallöhne auf Basis des Wifo-Modells entwickelt hätten.
Der STANDARD

Auch Hofer kann dem Wifo-Vorschlag einiges abgewinnen. Im Gegensatz zur rollierenden Teuerung über zwölf Monate sei der kürzere Betrachtungszeitraum wohl ein besserer Schätzer für die künftige Inflationsrate. Doch es gibt einen Haken, sagt der IHS-Ökonom. "Es kann natürlich auch sein, dass es jetzt drei Monate lang eine hohe Inflation gibt, die dann aber wieder zurückgeht."

Und auch die Umstellung von zwölf auf drei Monate sei nicht unproblematisch. "Um die Realeinkommen konstant zu halten, müssen die Unterschiede durch die fehlenden neun Monate jedenfalls ausgeglichen werden." Ansonsten ginge die Umstellung zulasten der Arbeitnehmer. Dass ein Umstieg derzeit schwierig sei, sieht auch Bittschi so. "Aber man sollte das auf jeden Fall andenken, wenn wir in eine Phase stabiler Inflation kommen", ist er überzeugt.

4. Zwei Jahre für mehr Planungssicherheit

Ziemlich einig sind sich die beiden Ökonomen, was längerfristige Abschlüsse anbelangt. "Das sehen wir generell kritisch", bezieht etwa Bittschi klar Stellung. Letztlich sei ein Abschluss über zwei Jahre, wie dies in Deutschland der Fall ist, eine "Spekulation mit der Inflationsrate".

In Österreich sind derartige Verhandlungsintervalle nicht vorzufinden, Abschlüsse, die bereits das Folgejahr berücksichtigen, gibt es aber schon. So einigten sich etwa die Metaller darauf, nach 8,5 Prozent für 2024 im Folgejahr einen Prozentpunkt auf die Teuerungsrate draufzuschlagen. Und auch im Baugewerbe und in der Bauindustrie gab es in der Lohnrunde vom März 2023 eine ähnliche Regelung. 9,5 Prozent im Jahr 2023, heuer dafür VPI plus fix vereinbarte 0,35 Prozentpunkte.

In gewissen Branchen mag das funktionieren, sagt auch Wifo-Experte Bittschi. Allerdings könne es auch hier stets zu Nachverhandlungen kommen, sollten unvorhergesehene Ereignisse wie eine Pandemie oder eine Energiekrise eintreffen. "Der Vorteil ist, dass es Sicherheit schafft. Sollte die Situation aber dann doch ganz anders kommen als gedacht, habe ich keine Flexibilität, neu zu verhandeln, oder muss erst recht nachverhandeln", pflichtet auch IHS-Ökonom Hofer bei. (Nicolas Dworak, 24.1.2024)