Stefan Kraft jubelt.
So oder so, bei Stefan Krafts unbändiger Freude am Skispringen könnte sich die Frage, ob der Salzburger der beste Skispringer aller Zeiten ist, noch viel öfter stellen.
APA/GEORG HOCHMUTH

Pro: Niemand ist über Kraft zu stellen!

von Fritz Neumann

Wahrscheinlich lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass Janne Ahonen aus Lahti, Sohn des Fahrzeugpolsterers Keijo und der Buchhändlerin Maarit, nicht bloß der coolste, sondern auch der weltbeste Skispringer aller Zeiten war. Der Finne hat fünfmal, so oft wie kein anderer, die Vierschanzentournee gewonnen und mit fünf Goldenen sowie drei Silber- und zwei Bronzemedaillen auch bei Weltmeisterschaften eine immer noch herausragende Bilanz. Einmalig war der Einsilbige, den sie den "großen Schweiger" nannten, aber vor allem im Weltcup. 108 Podestplätze sollte ihm so bald keiner nachmachen.

Doch dann, ja dann erschien Stefan Kraft aus Schwarzach im Pongau, Sohn des ÖBB-Angestellten René und der Sportartikelgeschäftsfrau Margot. Und machte nicht nur nach, sondern überflügelte Ahonen sogar. Bei 109 Podestplätzen hält Kraft seit seinem kürzlichen Sieg in Zakopane, auch an Siegen (37) hat er Ahonen um einen übertrumpft. Am 6. Jänner 2013, vor mehr als elf Jahren, war er in Bischofshofen als Dritter erstmals auf einem Weltcuppodest gestanden, am 29. Dezember 2014 feierte er in Oberstdorf den ersten Sieg, in seinem 50. Weltcupspringen. Für seine 109 Stockerlplätze hat er gerade einmal 283 Bewerbe benötigt.

Wunder an Konstanz

Kraft (30) ist ein Wunder an Konstanz. Man muss kein Mathematikgenie sein, um sich auszurechnen, dass er im Schnitt nur zwei bis drei Konkurrenzen benötigt hat, um einmal unter den ersten drei zu landen. Und man muss kein Prophet sein, um daraus zu schließen, dass sich der 1,70 Meter große und 56 Kilogramm schwere Salzburger zu einem Rekord für die Ewigkeit aufschwingen könnte.

Nicht auszudenken, wo es hinführen wird, sollte er vielleicht einmal wie seinerzeit Ahonen 412 Bewerbe in den Beinen haben. Freilich müsste Kraft da noch einige Jährchen anhängen. Die Motivation dürfte kein Problem sein, wie er selbst festhält. "Das unbeschreibliche Gefühl in der Luft, das man bei einem weiten Sprung hat. Das Spielen der Bundeshymne für meine erbrachte Leistung. Der Spaß und die Freunde. Das Reisen durch die Welt", zählt er auf, was ihn antreibt. Die Zahl 109 kommt in der Kraft-Vita übrigens noch ein zweites Mal vor. Als er 2017 in Vikersund auf 253,5 Meter segelte, wurde er zum 109. Weltrekordler in dieser Disziplin. Er ist es immer noch.

Es stimmt schon, dass Kraft noch der Einzel-Olympiasieg fehlt, um in den Kreis jener zu kommen, die bei den vier wichtigsten Skisprungbewerben (Olympia, WM, Gesamtweltcup, Tournee) zugeschlagen haben. Diesen Kreis bilden der Norweger Espen Bredesen, der Kärntner Thomas Morgenstern, der Finne Matti Nykänen, der Pole Kamil Stoch und der Deutsche Jens Weißflog. Doch Olympia hin, Einzeltitel her – die Beständigkeit, die Kraft seit einem guten Jahrzehnt zeigt, steht doch klar über dem einen Erfolg an dem einen Tag, an dem so viel passieren kann. Kraft ist, das sei auch an dieser Stelle betont, nicht etwa permanent vom Glück mit den Verhältnissen verfolgt.

Noch genügend Zeit

1993, Stefan Kraft war gerade einmal sieben Monate alt, hat Janne Ahonen mit 16 Jahren seinen ersten Weltcupsieg gefeiert, 2018 beendete der Finne – nach seiner siebenten Olympiateilnahme – mit 41 Jahren endgültig seine Karriere. Kraft ist erst dreißig, er hat noch genügend Zeit, seine Stellung als bester Skispringer aller Zeiten zu untermauern, mit weiteren Podestplätzen, vielleicht auch mit einem Einzel-Olympiasieg, womit auch immer. Nur in puncto Schweigen bleibt Ahonen für immer unangefochten. (Fritz Neumann, 25.1.2024)

Kontra: Noch hat Kraft keine Alleinstellung

von Sigi Lützow

Stefan Kraft, der beste Skispringer des vergangenen Jahrzehnts – auf diese Feststellung lassen sich Experten wie Werner Schuster, ehemaliger deutscher Bundestrainer und maßgeblicher Förderer von Weltcupweltrekordsieger Gregor Schlierenzauer, fast ohne zu zögern ein – trotz eines Kapazunders wie Kamil Stoch als Konkurrent. Der Pole war seit 2011 nur für sich selbst dreimal Olympiasieger, einmal Weltmeister und dreimal Vierschanzentourneesieger, dazu gewann er 39 Weltcupspringen und zweimal den Gesamtweltcup.

Ins Treffen wird Krafts Beständigkeit geführt. Seit er im Weltcup springt, war er mit Ausnahme zweier Saisonen (ausgerechnet in der Olympiasaison 2017/18 sowie 2020/21) stets ein Siegspringer. Ein Podestspringer war er sowieso. Daher auch sein am Sonntag mit dem Erfolg in Zakopane fixierter Rekord von bisher 109. Landungen unter den besten drei eines Einzelspringens oder -fliegens.

Was ist mit Nykänen?

Krafts Einzigartigkeit ist jedenfalls nicht an Titeln festzumachen. Einzelolympiasieger war der Pongauer noch nicht, das will er 2026 auf den Schanzen in Predazzo nachholen, zum Skiflugweltmeister könnte er sich dagegen schon am Samstag am Kulm zu Bad Mitterndorf krönen – nach bisher erst zwei Bronzemedaillen.

Olympiasieger, Weltmeister, Skiflugweltmeister, Vierschanzentournee- und Weltcup-Gesamtsieger – Kraft kann das Kunststück, alle diese Einzeltitel auf sich zu vereinen, noch schaffen und damit die Herren Espen Bredesen, Thomas Morgenstern, Kamil Stoch und Jens Weißflog überflügeln, die allesamt ohne Gold im Skifliegen blieben. Gelingt’s, kann die Frage, ob Kraft der beste aller bisherigen Zeiten ist, mit größerer Chance auf eine positive Antwort neu gestellt werden. Allerdings wirft sich dann immer noch eine andere Frage auf: Was ist mit Matti Nykänen?

Der große Finne hat als bisher einziger Skispringer das Quintett geschafft und war obendrein – wie Kraft aktuell mit 253,5 Metern – Skiflugweltrekordler (191 m). Die Zahl seiner Einzelgoldmedaillen (sechs) und -weltcupsiege (46) sagt nicht alles über die Genialität des Mannes aus Jyväskylä aus – und genau nichts über die Tragik seines Lebens, das am 4. Februar 2019 mit nur 55 Jahren endete. Auch Nykänen war ein beständiger Siegspringer. Zwischen 1981 und 1989 holte er jedes Jahr zumindest einen internationalen Titel. Die Umstellung von Parallel- auf den V-Stil, die größte Umwälzung in der Geschichte des Skispringens, schaffte er allerdings nicht perfekt. Am besten bewältigte sie Jens Weißflog, der – wenn überhaupt jemandem diese Zuschreibung gebührt – bisher beste Skispringer.

Wandlungsfähiger Weißflog

Weltcupspringen in beiden Stilen gewannen immerhin acht Athleten, darunter die vier Österreicher Ernst Vettori, Andreas Felder, Heinz Kuttin und Stefan Horngacher, aber nur der kleine Sachse Weißflog aus Erlabrunn im Erzgebirge gewann in beiden Stilen Einzelmedaillen bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen. Einzelolympiasieger war er gar im Abstand von zehn Jahren zwischen den Spielen von Sarajevo 1984 und Lillehammer 1994. Also auch für zwei Länder – die DDR und Gesamtdeutschland.

Und wie war es um Weißflogs Beständigkeit bestellt, wie also mit dem Argument, das am meisten für Kraft spricht? Zwischen dem ersten Weltcupsieg Weißflogs am 6. Jänner 1983 in Bischofshofen und dem 33. und letzten am 17. Februar 1996 in Iron Mountain, USA, lagen nur drei Saisonen ohne einschlägigen Erfolg für den heute 59-Jährigen, den besten Skispringer aller bisherigen Zeiten. (Sigi Lützow, 25.1.2024)