Marine Le Pen ist Chefin des rechtspopulistischen Rassemblement National, des früheren rechtsextremistischen Front National.
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Den Schock von Pirna – die erstmalige Wahl eines AfD-Bürgermeisters im deutschen Bundesland Sachsen im Dezember – hat Frankreich schon 1995 erlebt. Vor bald dreißig Jahren gewann Jean-Marie Le Chevallier vom rechtsextremen Front National (FN) die Lokalwahl in Toulon. Er hielt sich sechs Jahre lang als Bürgermeister von 180.000 Einwohnern; 2001 wurde er wegen Korruption im Amt verurteilt. Seither regieren wieder die konservativen Republikaner in der traditionell rechtslastigen Hafenstadt am Mittelmeer.

Und seither wogt in Frankreich die Debatte, wie Wahlsiege "antirepublikanischer" Kräfte zu verhindern seien. Die Linke setzte eher auf die "Dämonisierung". Sie forderte einen "cordon sanitaire", ein Sicherheitsband, um den Front National des rassistischen Hetzers Jean-Marie Le Pen. Auch ein Verbot der unter anderem von einem Vertreter der Waffen-SS gegründeten Partei wurde eifrig diskutiert.

Die gemäßigte Rechte lehnte dies ab. Aber sie beteiligt sich bis heute an der Ausgrenzung des FN, dessen N wie "haine" (Hass) ausgesprochen wird. In der Sache plädierten die Republikaner hingegen für die "Bagatellisierung" einer Partei, die nur ein Symptom für effektive Fehlentwicklungen im Land sei und auf nationaler Ebene keine echten Siegeschancen habe.

TV-Debatte verweigert

Der konservative Gaullist Jacques Chirac verweigerte 2002 eine TV-Debatte mit Jean-Marie Le Pen, der sensationell in den zweiten Durchgang der Präsidentschaftswahl vorgedrungen war. Die präsidiale Stichwahl verlor Le Pen mit weniger als 18 Prozent. Seine ihm nachfolgende Tochter Marine Le Pen erhielt dann aber 2017 schon 34 Prozent, 2022 kam sie auf gut 41 Prozent.

Und jetzt, wo ihr Einzug in den Elysée-Palast bei der Präsidentschaftswahl 2027 in den Bereich des Möglichen rückt, wird die Debatte virulenter denn je: was tun, damit die Nation der Aufklärung und der Menschenrechte nicht in die Hände der "extrême droite", der Rechtsextremen fällt?

Die alte Streitfrage – Dämonisieren oder Bagatellisieren – hat sich entwickelt. Denn beides zieht nicht mehr. Auch das Verteufeln mit der Moralkeule nicht: Bei der Europawahl im Juni dürfte der gegenüber dem FN aufpolierte Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen, der eher das Prädikat "rechtspopulistisch" trägt, mit Abstand die stärkste Partei im LAnd werden.

Mit den eigenen Waffen schlagen

Emmanuel Macron erklärte in einer Regierungssitzung, der Kampf gegen die Lepenisten laufe "nicht mehr über moralische Argumente". Man könne "nicht Millionen Franzosen glauben machen, dass sie für Faschisten stimmen".

Linkenchef Jean-Luc Mélenchon wirft Macron vor, er habe mit seinem verschärften Einwanderungsgesetz bewusst die RN-Positionen übernommen. Der Versuch, Le Pen auf diese Weise Stimmen abzuluchsen, sei nutzlos und gefährlich, da die Leute "das Original immer der Kopie vorzögen".

Macron steht dazu, dass er Le Pen eher mit ihren eigenen als mit fremden Waffen zu schlagen gedenke. Ohne falsche Moral, fügt er an: Mélenchons "Unbeugsame" haben dagegen in der entsprechenden Parlamentsabstimmung aus purer Taktik gemeinsame Sache mit den Lepenisten gemacht, einzig um die Mitteregierung zu Fall zu bringen.

In einem Punkt sind sich die etablierten Parteien einig: Eine Wahlallianz mit Le Pen kommt nicht infrage. Auch für die Konservativen nicht. Ohne Koalition in der Nationalversammlung könnte aber auch eine gewählte Präsidentin Le Pen nicht regieren.

Le Pen auf Demo gegen Antisemitismus

Die Brandmauer bröckelt allerdings, so nicht zuletzt am rechten Rand der Republikaner, die inhaltlich sehr ähnlich argumentieren wie die Lepenisten. Macron sucht anders als Chirac geradezu die Debatte mit Le Pen. In den beiden präsidialen TV-Streitgesprächen von 2017 und 2022 lief er allerdings Gefahr, seine Widersacherin als "normale Politikerin" zu legitimieren.

Dass Marine Le Pen im November in Paris an einer Demo gegen Antisemitismus teilnahm, löste sogar Gegendemonstrationen aus.
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Im vergangenen Oktober wurde die RN-Gründerin zudem erstmals auf einer Großdemo gegen Antisemitismus geduldet. Dabei bestätigen mehrere Studien von Umfrageinstituten, dass Le Pens RN die Partei ist, in der Antisemiten noch am zahlreichsten sind. Eine Reportage des TV-Senders France-2 zeigte zudem ein Bild von Le Pens Listenführer Jordan Bardella, wie er dem ehemaligen Chef der ultrarechten Splittergruppe GUD zuprostet. Dem Streben nach Normalisierung und Salonfähigkeit des RN ist das nicht gerade förderlich.

Ende letzten Jahres lieferte die "Washington Post" den Beleg, dass Bardella nach einem Kontakt mit Wladimir Putins Kabinettschef fast wörtlich russische Positionen wiedergab. Der RN-Sekretär denke offenbar eher an die Sicherheit Russlands als an jene Frankreichs, kommentierte die Sozialistische Partei in Paris. Der Macron-Abgeordnete Stéphane Vojetta schob nach: "Für Le Pen und Bardella zu stimmen bedeutet, für Putin zu stimmen."

So hart sie mit Le Pen auch ins Gericht gehen – von einem Verbot des RN ist in Frankreich heute nicht mehr die Rede. Heute geht es ums Enthüllen, Klarstellen, Entlarven. Denn gegen die Fakten kommt auch Le Pen nicht an. (Stefan Brändle aus Paris, 25.1.2024)