Ein Pro-IRA-Motiv, wie es im katholischen Teil Belfasts der Achtzigerjahre keine Seltenheit war.
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Ein ungeklärter Terrormord? In Nordirland reine Routine. Die Anfrage bei der Polizei fördert die dürre Mitteilung zutage, der Fall bleibe offen. Auch die Familie will kein Aufhebens machen, schließlich muss sie unter den Mördern ihres Angehörigen weiterleben. In der Ortskirche der Kleinstadt Newry wird es die alljährliche Seelenmesse geben. Routine eben.

Vor 25 Jahren lag Eamon Collins’ Leiche am Rande der Landstraße außerhalb von Newry, wenige Hundert Meter von seinem Wohnhaus entfernt. Ermordet worden war an jenem eiskalten Jännermorgen 1999 der Autor eines der besten Bücher über den nordirischen Bürgerkrieg. In schonungsloser Offenheit beschreibt "Killing Rage" (auf Deutsch im Fischer-Verlag als "Blinder Hass" erschienen) den Werdegang eines jungen Katholiken im damaligen Apartheidstaat, seine Karriere in der irisch-katholischen IRA und schließlich seine Abkehr von der Terrortruppe.

Stolz auf den Kampf

Mag sein, dass sich Collins’ Mörder – den Ermittlungen zufolge waren mindestens vier Männer beteiligt – heute ebenso ihrer Bluttat rühmen, wie es Collins jahrelang mit seinen Verbrechen getan hatte. Auch in "Killing Rage" scheint immer wieder der Stolz durch auf seinen Kampf gegen die "britischen Kolonialherren". Der heimliche IRA-Mann spionierte einen Arbeitskollegen beim britischen Zoll aus, gab dem Killerkommando minutiöse Anweisungen und nahm an der Beerdigung teil – nicht etwa, weil er Reue empfand, sondern um neue Opfer auszuspähen.

Dem Studenten Collins erging es wie hunderten seiner Zeitgenossen: Er wurde verhaftet aus einem einzigen Grund – weil er Katholik war. Die Prügelfolter durch die britische Armee, die Demütigung seines Vaters, das erlittene Unrecht trieben den jungen Mann in die Arme der Paramilitärs. Gleichzeitig enthält "Killing Rage" eine Gebrauchsanweisung dafür, wie man Terroristen aus ihrer Denkblockade befreit. Der Richter am High Court in Belfast demonstrierte dem fanatischen Briten-Hasser, dass der Rechtsstaat auch für seine Gegner da ist.

Abkehr vom Terrorismus

Collins’ Buch erschien 1997. Da hatten die Paramilitärs beider Seiten gerade zum zweiten Mal einen Waffenstillstand verkündet, aber den gewaltfreien Protestanten fehlte Vertrauen. Man könne den einstigen Terroristen und nun als ehrenwerte Politiker auftretenden Gerry Adams und Martin McGuinness nicht trauen, argumentierten viele in der größten Unionisten-Partei UUP.

"Ich habe schreckliche Dinge gemacht in meinem Leben. Meine Hoffnung ist, dass irgendjemand irgendwo aus meiner Lebensgeschichte etwas Nützliches lernt." Eamon Collins’ Hoffnung erfüllte sich auf erstaunliche Weise. Denn zu seinen Lesern zählte der UUP-Vorsitzende David Trimble. Bei aller Abscheu vor der brutalen Ehrlichkeit des Autors habe er, so vertraute es der Politiker später einem Interviewer an, das Buch "sehr wichtig" gefunden. Es trug dazu bei, den misstrauischen Mann davon zu überzeugen, dass fanatischen Gewalttätern die dauerhafte Abkehr vom Terrorismus gelingen könne. Trimble willigte in das Karfreitagsabkommen von 1998 ein, erhielt gemeinsam mit John Hume den Nobelpreis und ging mit der IRA-Nachfolgepartei Sinn Féin in die Belfaster Allparteienregierung.

Hunderte ungeklärte Morde

Längst ist die UUP von der radikaleren Protestantenpartei DUP abgelöst worden, Trimble und viele seiner damaligen Kontrahenten sind tot. Ihre Vision aber ist Wirklichkeit geworden: Die IRA und die anderen paramilitärischen Organisationen beider Seiten haben sich aufgelöst, Nordirland ist an äußeren Frieden gewöhnt. Aufklärung und Versöhnung aber bleiben Mangelware, nicht zuletzt, weil Hunderte von Terrormorden unaufgeklärt bleiben.

Wie mit Opfern und Hinterbliebenen umgegangen werden soll gehört wie die Folgen des Brexits zu den Streitfragen, die seit zwei Jahren zur Lähmung der Regionalregierung beitragen. Auf beiden Seiten haben die Hardliner Auftrieb; der DUP-Vorsitzende Jeffrey Donaldson berichtete diese Woche im Unterhaus von Drohungen gegen seine Person. Der Londoner Nordirland-Minister Chris Heaton-Harris hofft auf den Köder eines Milliardenpakets für die wirtschaftlich rückständige Region: Das Geld soll es nur geben, wenn sich die politischen Kontrahenten zusammenraufen, notfalls nach Neuwahlen.

Rache der Mafiabosse

Ob dann auch die Kommission ICRIR ihre Arbeit zur "Versöhnung und Informationsgewinnung" aufnimmt und vielleicht die Klärung des Falls Collins ermöglicht? Kevin Toolis, Autor des preisgekrönten IRA-Buchs "Rebel Hearts", mag daran nicht glauben. "Niemals wird die IRA zur Aufklärung beitragen. Gerry Adams gibt doch nicht einmal seine Mitgliedschaft zu." Zudem sei sein Autorenkollege Collins ein ganz besonderer Fall gewesen. "Er war nicht einfach nur ein Verräter, den man per Genickschuss erledigt. Er war ein Häretiker, der die gesamte moralische Rechtfertigung der Terrorkampagne untergraben hatte." Nicht zuletzt sagte er im Jahr vor seinem Tod als Zeuge gegen einen früheren IRA-Generalstabschef aus.

Die Rache der republikanischen Mafiabosse fiel grässlich aus. Nach Betrachtung der Leiche des schmalen, nur 1,53 Meter großen Mannes sprach die Kripo von einem "Verbrechen von Höhlenmenschen": Der Körper trug Folterspuren, das Gesicht war durch Schläge und Stiche bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Bei der Totenwache im eigenen Haus musste der Sarg, anders als in Irland bis heute üblich, geschlossen bleiben – so wie in Nordirland bis heute viele Herzen und Lippen verschlossen bleiben.

Mag sein, dass es eine weitere Generation braucht, bis eine einigermaßen geheilte Gesellschaft die Wunden wieder besichtigen kann, die der mörderische Bürgerkrieg geschlagen hat. Irgendwann wird eine neue Generation wissen wollen, was Sache war. Dann werden die Sophistereien eines Gerry Adams und die Ausflüchte seiner Gesellen im Geiste auf der protestantischen Seite keinen Bestand mehr haben. Dann ist Ehrlichkeit gefragt, brutale Ehrlichkeit, wie Eamon Collins sie bewiesen hat. (Sebastian Borger aus London, 25.1.2024)