Tanja Maljartschuk.
"Erinnerung ist ein Luxus, den die Menschen in der Ukraine derzeit nicht haben", sagt die in Wien lebende, ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk.

Ein ganz besonderer Abend: Mit dieser gleich zu Beginn festgestellten Zuschreibung für die Veranstaltung in der Alten Schmiede Mitte Jänner ist die bei der Stadt Wien für Literatur und die Wienreihe zuständige Julia Danielczyk als Moderatorin ganz richtig gelegen. Schon vor der Lesung der beiden frisch Ausgezeichneten (Maljartschuk erhält den Förderpreis und Martin Pollack den Preis für Publizistik) mussten jede Menge zusätzliche Sitzgelegenheiten aufgestellt werden, und wer nicht mehr in den Saal passte, lauschte nicht weniger gebannt vom Vorraum aus.

Zwischen den Publikumsreihen war überdies ein slowakisches Fernsehteam zugange, das gerade einen Film über den Autor und Übersetzer Martin Pollack dreht, der zwar bekanntermaßen gesundheitlich schon lange geschwächt ist, aber dafür umso unermüdlicher immer weiter seiner so wichtigen Arbeit nachgeht.

Martin Pollack, "Topografie der Erinnerung". € 24,– / 176 Seiten. Residenz-Verlag, 2016.
Verlag

Aufarbeitung als Lebensaufgabe

Mit Maljartschuk verbindet Pollack nicht nur eine Freundschaft, wie er sie zu unendlich vielen Schriftstellerinnen und Autoren aus dem mittel- und südosteuropäischen Raum seit Jahrzehnten pflegt, sondern auch die Gabe für und die Hingabe an das literarische Ausgraben und Aufarbeiten von mitunter schrecklichen Stoffen und Kriegsgeschehnissen. "Meine Vergangenheit", gibt Pollack unumwunden zu, "hält mich gefangen." Seine Lesung des Kapitels Der Unbekannte, mein Vater aus seiner 2016 erschienenen Essaysammlung Topografie der Erinnerung macht auch klar, warum. Sein leiblicher Vater, den Pollack nie getroffen hat, war Chef der Linzer Gestapo und ist 1947, als er sich wie viele Kriegsverbrecher nach Südamerika absetzen wollte, auf dem Brenner ums Leben gekommen. Der Tote im Bunker heißt sein bereits 2004 dazu erschienenes Buch.

Sein Leben lang hat Pollack nun versucht, Antworten zu finden. Er hält sich diesbezüglich für keine besondere Ausnahme. "Es gibt viele", sagt er in seiner nüchternen Art, "deren Väter oder Großväter Täter waren". Aber nur wenige haben sich der eigenen Familiengeschichte so schonungslos gestellt wie er und es sich zur Lebensaufgabe gemacht, sie aufzuarbeiten. Die Toten zu benennen, ihnen ihre Namen wiedergeben, das sei er den Opfern seines Vaters schuldig.

Der Publizist Martin Pollack
Pollacks Vater war Chef der Linzer Gestapo - die Aufarbeitung der Vergangenheit seiner Familie hat er sich deshalb zur Lebensaufgabe gemacht.
Heribert Corn

In so düsteren Zeiten

"Wir wissen, dass der Boden hier in Europa brüchig ist", sagt er als Ukraine-Kenner mit Blick auf eine überall erstarkende Rechte, den Krieg in Europa und seine ukrainische Kollegin Tanja Maljartschuk neben sich auf dem Podium, deren ukrainische Schriftstellerkollegen gerade an der Front kämpfen, manche auch sterben. Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus heißt ihr Essayband, in dem sie mit ihren Erzählungen zwischen Geschichte und Gegenwart einen Bogen schlägt oder auch erklärt, warum Russland die Ukrainer immer noch Faschisten schimpft. Auf dem Podium bedankt sie sich erst einmal bei Martin Pollack, dessen Texte, wie sie sagt, auch für eine jüngere Autorengeneration in der Ukraine unglaublich prägend waren. Und auch für seine Position und den Appell, dass die Ukraine nicht nur für sich, sondern vielmehr für die Demokratie in Europa kämpft – und damit für uns alle.

Erinnerung ist ein Luxus, erklärt uns Maljartschuk an diesem Abend in der Schmiede. Einen solchen Luxus, in Ruhe über die eigene Geschichte zu reflektieren, hatte die Ukraine als Land fast nie, seit 2014 erst gar nicht. Das sei mit ein Grund, warum sie als Schriftstellerin ihr großes Romanprojekt (über den Holocaust in der Ukraine) erst einmal beiseitegelegt habe. Worüber sollte man schreiben? Das fragt sie sich. Die Vergangenheit ist nicht mehr wahr. Die Gegenwart ist so schmerzlich, dass sich kaum etwas über sie schreiben lässt: "Wie bitte lässt sich das Unvorstellbare benennen?" Manchmal träume sie vom Schreiben, erzählt sie, und von Gedichten – übrigens auf Deutsch. Im Kampf zwischen Realität und Literatur verliert immer die Literatur, sagt sie. Das Schreiben ist für sie weit weg, in eine andere Welt gerückt.

Martin Pollack, "Topografie der Erinnerung". € 24,– / 176 Seiten. Residenz-Verlag, 2016.
Verlag

"Never-ending story"

Was kann Literatur in so düsteren Zeiten bewirken? Diese Frage müssen Maljartschuk und Pollack immer wieder beantworten. Vielleicht nichts, sagt die Schriftstellerin, aber immer wieder kann sie für einzelne Menschen Rettung bedeuten. Früher für Menschen in den Konzentrationslagern, heute für Menschen in der Ukraine, wo gerade der Krieg tobt.

Am Ende erinnert Maljartschuk das Publikum an den 2004 erschienenen Doppelessay Mein Europa der Autoren Juri Andruchowytsch und Andrzej Stasiuk, dessen Beitrag übrigens Martin Pollack aus dem Polnischen übersetzt hat, in dem es an einer Stelle sinngemäß heißt: Jede mitteleuropäische Reise ist eine Flucht und jeder mitteleuropäische Tod ein Tod im Massengrab. Weil Maljartschuks Roman Der Blauwal der Erinnerung gerade ins Englische übersetzt wurde, beschrieb die Zeitschrift The Atlantic ihre Literatur nicht bloß als Erinnerungs-, sondern noch viel mehr als Exhumierungsarbeit.

Genau das verbindet sie mit ihrem, wie sie ihn nennt, "Lehrer" und Verfasser des Buchs Kontaminierte Landschaften, Martin Pollack. Für ihn bleibt die Vergangenheit eine "never-ending story", die ihn nicht loslässt: "Wir müssen darauf gefasst sein, dass immer etwas Neues auftaucht." (Mia Eidlhuber, 28.1.2024)