Die Physikerin Jessica Wade.
Jessica Wade schrieb unzählige Wikipedia-Biografien von Forscher:innen, die gefehlt haben.
APA/AFP/ISABEL INFANTES

London/Wien - Bekannt wurde die Physikerin Jessica Wade einer breiteren Öffentlichkeit für ihr Engagement, um Frauen und People of Color (PoC) aus den Ingenieurs- und Naturwissenschaften über verfasste Wikipedia-Biografien zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen. Prinzipiell sieht sie das System in der Pflicht, die Spielregeln zugunsten von Marginalisierten zu ändern. "Aber zuvor müssen wir die Menschen mehr über ihren Bias (ihre Vorurteile, Anm.) aufklären", so die Britin zur APA.

Früher schrieb Wade, die am Samstag am Wiener Wissenschaftsball teilnehmen wird, etwa einen Wikipedia-Eintrag pro Tag, heute sind es drei bis vier Einträge pro Woche. Das liegt weniger daran, dass es nach den seit 2018 verfassten etwa 2.100 Wikipedia-Biografien nicht mehr genug verdienstvolle Frauen in der Forschung gibt, sondern daran, dass Wade seit Oktober als Dozentin am Imperial College London tätig ist. Zudem bekam sie ein Forschungsstipendium der Royal Society – ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der Entwicklung neuer Materialien für die Optoelektronik und Quantentechnologien.

Multiplikator-Effekt

So hat sie nun aber auch schon andere in das Verfassen von Wikipedia-Einträgen über marginalisierte Forschende eingearbeitet. Studierende helfen beim Übersetzen der Biografien, um sie auch global einer möglichst großen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. "Das hat zu einer Art Multiplikator-Effekt geführt – viele Menschen auf der ganzen Welt kreieren und übersetzen sie nun", sagte die für ihren Einsatz für mehr Gerechtigkeit in der Forschung vielfach ausgezeichnete Physikerin.

"Es geht mir mehr darum, dem wissenschaftlichen System seine Schwächen aufzuzeigen, als Frauen zu bestärken, sich der eigenen Vermarktung mehr zu widmen." Ein gutes System müsse die Beiträge aller berücksichtigen, so Wade. Die Realität sieht noch anders aus. "Nach wie vor trifft in der Regel nur eine kleine, homogene, oft nur von weißen Männern dominierte Gruppe Entscheidungen über die Vergabe von Preisen, Stipendien, Förderungen jeglicher Art - und das kann viele unbewusste Vorurteile und Stereotype mit sich bringen", sagte Wade. Sie will, dass die Menschen anfangen darüber nachzudenken, wie viele sich anstrengen, ebenfalls eine Chance zu bekommen.

Standards des englischsprachigen Wikipedia

Konzentrierte sich Wade bei ihren Wikipedia-Einträgen zunächst auf Physikerinnen in Großbritannien, "so wird einem schnell klar, dass die Diversität in dieser Kohorte sehr schlecht ist": "Historisch gesehen geht es hier vor allem um weiße, gut situierte Frauen." Das veranlasste Wade schnell, ihren Suchradius zu öffnen: "Es braucht natürlich mehr Zeit, sich in fachfremde Arbeiten einzulesen, aber es ist auch sehr aufregend, etwas über ein neues Thema oder eine neue Technik zu lernen."

Ihre Protagonistinnen, die sie mitunter auch für Preise nominiert, findet Wade über Webseiten der Einrichtungen, Preisträgerinnen oder auch in Medienbeiträgen. "Wenn man aber über Forschende aus dem Globalen Süden schreibt, ist es manchmal schwierig, die vergleichsweise strikten Standards des englischsprachigen Wikipedia in puncto verifizierbare Quellenangaben zu erfüllen." Blog-Einträge und Beiträge auf Sozialen Medien zählen nicht als Quelle, die Medien des Globalen Süden gelten oft als weniger glaubwürdig als westliche Medien.

Ist einmal eine Biografie verfasst und veröffentlicht, ergibt sich eine Art Schneeballeffekt – andere verlinken den Beitrag, der Impakt verselbstständigt sich und ist letztlich nicht vorhersehbar, geschweige denn messbar. Die US-Mathematikerin Gladys West, im Jahr 1930 als Kind einer afrikanisch-amerikanischen Bauernfamilie im Bundesstaat Virginia geboren, stellte Wade auf Wikipedia 2018 vor. "Zu Zeiten der Rassentrennung aufgewachsen kam sie nach dem Studium als Lehrende an die Uni und arbeite letztlich für die US-Regierung", ihre mathematischen Arbeiten lieferten Grundlagen für die Satellitentechnologie. "Einige Monate, nachdem ich den Beitrag auf Wikipedia veröffentlicht hatte, wurde sie in der BBC-Serie '100 Women' vorgestellt, es folgte 2018 außerdem die Aufnahme in die Hall of Fame der United States Air Force", erzählte Wade. Dieser Art Erfolgsgeschichten inspirieren Leserinnen und Leser wie auch Zuhörerinnen und Zuhörer von Veranstaltungen, wo Wade vorträgt, sie werden weitergetragen.

Wie kann man aber das System in Richtung mehr Gleichberechtigung ändern? "Bevor man die Regeln des Spieles verändert, die die Pessimisten nur noch mehr verärgern, müssen wir die vorherrschende Voreingenommenheit sichtbarer machen." Denn: Voraussetzung für sichtbare Karrieren sei, dass "Anerkennung auf Einstiegsebene" gegeben ist: "Wir müssen das Bewusstsein dafür schärfen, dass vielen einfach früh bereits die Förderung verwehrt bleibt." Wade sieht aber Grund zur Hoffnung, Fördereinrichtungen würden immer häufiger auch schon auf den Bias-Faktor aufmerksam machen.

Nur etwa 60 schwarze Professorinnen

Schwierig sei es besonders, wenn es eine Kombination von "multiplen Identitäten" gibt: "Es ist in der Physik für eine Frau schwerer als für einen Mann, aber es ist zehn Mal schwerer für eine muslimische Frau." Von den rund 23.000 Professoren im Vereinigten Königreich gibt es nur etwa 60 schwarze Professorinnen, so Wade.

Letztlich geht es auch darum, die vorherrschenden Kriterien für Exzellenz zu überdenken – "aber nicht im Sinne von: Frauen sind weniger exzellent als Männer, lasst uns die Regeln ändern". Auch müsse viel mehr ins Bewusstsein rücken, dass wissenschaftliche Errungenschaften auf Grundlage der Zusammenarbeit von vielen Menschen fußen: "Es können auch heute nur drei Forschende einen Nobelpreis gewinnen, selbst wenn Hunderte oder Tausende von Forschenden zu einer Entdeckung beigetragen haben." Es brauche mehr Anerkennung, auch für jene, die die methodische und analytische Arbeit liefern oder die sich in der Lehre, für die Forschungskultur und für Wissenschaftsvermittlung einsetzen.

Ihr Ziel sei es, die Geschichten der Unsichtbaren zu erzählen. Als "Role-Model" sieht sich die Forscherin aber nicht: "Ich versuche nur zu helfen." (APA, 26.1.2024)