Haim Raanan
Haim Raanan spricht über das Massaker in dem Kibbuz Be'eri.
REUTERS/ALEXANDRE MENEGHINI

Niemals hätte Haim Raanan gedacht, dass er sich als Jude zweimal verstecken müsse, um sein Leben zu retten. 1935 in Budapest geboren, wuchs er mit seiner Familie im jüdischen Ghetto der Stadt auf. An dem Haus seiner Familie prangte der Davidstern. Seine Kindheit verbrachte er als Mensch zweiter Klasse. "Wir lebten in ständiger Angst. Werden wir deportiert? Werden wir genug zu essen haben, um uns einen weiteren Tag zu ernähren?", erinnert sich Raanan in einer Kurzbiografie für das Projekt "Humans of Israel".

Eines Tages erfuhr seine Familie, dass die antisemitische Pfeilkreuzler-Miliz nach ihnen suchte. Die Flucht aus dem jüdischen Ghetto war unmöglich. Es blieb nichts anderes übrig, als zu verharren. Als drei Soldaten schließlich an die Tür von Raanans Haus klopften, befürchtet die Familie das Schlimmste. Doch Raanans Großvater erkannte einen der Männer als entfernten Verwandten. Die Soldaten waren nicht gekommen, um die Familie zu verschleppen, sondern um sie in Sicherheit zu bringen. Durch einen glücklichen Zufall zählte Raanans Familie zu jenen ungarischen Juden, die durch Schutzpapiere des schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg gerettet werden konnten. Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, war Raanan zehn Jahre alt. Die Traumata aus der Zeit verfolgten ihn noch lange.

Foto von Raanan aus der Zeit des Nationalsozialismus
Raanan zeigt ein Foto von sich und seiner Mutter aus der Zeit des Nationalsozialismus.
REUTERS/ALEXANDRE MENEGHINI

Verstecken vor dem Terror

Acht Jahrzehnte später, am 7. Oktober 2023, muss Raanan sich wieder verstecken. Wieder geht es ums Überleben. Terrorgruppen der Hamas stürmen den israelischen Kibbuz Be'eri, in dem Raanan mittlerweile wohnt. Stundenlang muss er in einem Schutzraum bleiben. Neben ihm kauern sein Sohn und sein Enkel. Das Kind ist im selben Alter wie Raanan zur Zeit des Nationalsozialismus. Es erinnert ihn an die vielen Male, die er sich vor den Faschisten in Sicherheit bringen musste. Raanans Familie hat noch einmal Glück. Die Terrorgruppen erreichen ihr Haus nicht.

"Die Hamas-Terroristen setzten viele Häuser in Brand, um die Bewohner zu zwingen herauszukommen. Aber viele zogen es vor, in den Bränden zu sterben", erzählt Raanan. Mehr als 100 Bewohner des Kibbuz wurden an diesem Tag ermordet oder entführt und nach Gaza gebracht. Die Terrorattacke der Hamas trifft Raanan emotional noch stärker als die Verfolgung während des Zweiten Weltkriegs. "Ich kannte fast jede einzelne Person, die an diesem Tag ermordet wurde."

Raanan vor Bild bei Ausstellung
Raanan bei der Ausstellung anlässlich des Internationalen Holocaust-Gedenktags.
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Wie ein zweiter Holocaust

Am 23. Jänner sprach Raanan bei einer Ausstellung der EU-Delegation in Israel anlässlich des Internationalen Holocaust-Gedenktags, der alljährlich am 27. Jänner begangen wird. Eines der Bilder zeigt den 88-Jährigen auf einer Couch. Um den Hals trägt er eine Kette mit einer metallenen rechteckigen Hundemarke als Anhänger. Es ist ein Zeichen der Solidarität mit jenen Geiseln, die noch immer von der Hamas festgehalten werden. Er hält ein Handy hoch, auf dessen Bildschirm ein Schwarz-Weiß-Foto zu sehen ist. Es zeigt ihn und seine Mutter, Schulter an Schulter, beide mit einem gelben Stern auf der Brust.

"Es schockiert mich, dass der Davidstern wieder an jüdische Häuser in ganz Europa gemalt wird", erzählt Raanan. Es erinnere ihn an die antisemitische Verfolgung, die er als Kind erlebte. Er dachte, die Welt habe ihre Lektion gelernt. Eine Illusion, zerstört von der Terrorattacke der Hamas. "Für mich war der Tag wie ein zweiter Holocaust." (Helene Dallinger, 27.1.2024)