Ben Glassberg, der Vielseitige: am Samstag die
Ben Glassberg, der Vielseitige: am Samstag die "West Side Story", demnächst "Die lustige Witwe".
Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Ben Glassberg darf man sich als gegen Wankelmut eher resistenten Zeitgenossen vorstellen. Bei seiner Bestellung zum Musikchef der Volksoper wird dies kein Nachteil gewesen sein. Vorgänger Omer Meir Wellber, dessen Assistent Glassberg einst war, hatte es plötzlich vorgezogen, vorzeitig abzutreten. Als Glassberg der Anruf von Lotte de Beer ereilte, habe er aber "sofort zugesagt, nachdem auch meine Frau dafür war".

Auch ein gelassener Umgang mit Hektik wird ihm am Wiener Repertoirehaus helfen. Der Tag einer Premiere etwa: Dieser ist ja an sich ein besonderer, jeder gestaltet ihn speziell, um sich für den Abend in Form zu bringen. Glassberg allerdings bestreitet am Samstag, dem Premierentag der West Side Story, am "Vormittag noch eine Probe für die nächste Premiere" der Lustigen Witwe. "Danach schlafe ich den ganzen Nachmittag. So ist es für mich, als würde der neue Tag einfach später beginnen."

Lange kein Chef

Der junge Kapellmeister, der froh ist, nach 30 Jahren aus London weggekommen zu sein, wird an der Volksoper – mit der Hoffnung auf Verlängerung – bis 2027 bleiben. Sieben Monate Anwesenheit und an die 50 Vorstellungen sind sein angepeiltes Pensum. Gut so. Das Haus, das lange keinen Musikchef hatte, kann weitere Niveausteigerung gebrauchen. Was der Vorgänger Wellber angestoßen hat, darf der 1994 in London Geborene gerne vertiefen.

Und Glassberg bekundet, "für die tägliche Arbeit" da sein zu wollen, um verschiedene Genres zu betreuen. Die nötige Stilflexibilität habe er, behauptet Glassberg. Wenn etwas seinen Stil ausmache, dann diese Genrevielfalt; gerade jetzt an der Volksoper zu landen, findet er insofern extrem spannend. Das Traditionshaus sei im Umbruch. In der Volksoper lebe die große Opern- und Operettentradition. Zugleich sei es aber jenes Haus, in dem "seit den 1960ern, als Marcel Prawy Dramaturg war, Musicals – und dies mit großem Orchester – gezeigt werden, was einzigartig ist". Und, weil er schon vom Orchester redet: Ein Klangkörper, der "Werke wie Salome, Fledermaus, Anatevka und ein Ballett zur Musik von Ligeti innerhalb weniger Tage spielt und alles davon gleich ernst nimmt? Das allein ist weltweit einzigartig und gilt auch für Ensemble und Chor!"

"Sei du selbst!"

Sich in diesem Meer der Vielfalt zurechtzufinden verlangt vom Dirigenten nicht nur Repertoirekenntnisse: "Von Omer habe ich gelernt: Sei du selbst! Und ich denke, ich habe jetzt mehr Kontakt zu mir. Als ich begann, habe ich versucht, ein Dirigent zu sein, indem ich distanziert, ernst daherkomme." In den letzten Jahren habe er allerdings begriffen, "dass es vor allem Spaß machen muss, man kann dann leichter in die Tiefe gehen".

Es geht natürlich letztlich um eine bestimmte Balance: "Man sollte sich selbst nicht in den Vordergrund schieben. Andererseits braucht man natürlich schon ein deutliches Ego. Schließlich muss ich mich ja vor die Kollegen und Kolleginnen stellen und dann etwas zu sagen haben."

Was pädagogisch wertvolle Vorbilder anbelangt, lohnt beim ausgebildeten Schlagwerker Glassberg der Blick in die Heldengalerie des Genres. An Claudio Abbado bewunderte er dessen "warmherzige Art", eine Eigenschaft, von der Glassberg glaubt, sie auch aus jenem Klang heraushören zu können, den Abbado produzierte. Auch nennt er Namen wie Bernard Haitink und Colin Davis. "Bei denen spürte man, dass die Ideen gleichsam aus dem Herzen kommen, aber nicht das eigene Ich im Vordergrund steht."

Lenny auch wichtig

Und wie verhält es sich mit Leonard Bernstein, dessen West Side Story er mit der regieführenden Intendantin Lotte de Beer umsetzt? Glassberg nennt Bernstein einen "Hero", dessen filmische Verarbeitung durch Bradley Cooper er noch nicht gesehen hat. Dafür habe er jene Doku studiert, die Bernstein bei Aufnahmen zum Musical zeigt. "Bei Bernstein gab es keine Fassade, nur Offenheit. Aber dieser Augenblick, wenn er José Carraras schlecht behandelt, weil ihm etwas rhythmisch nicht passt, ist sehr unangenehm zu betrachten. So kann man eigentlich mit einem Sänger nicht reden … aber Bernstein hatte offenbar eine ganz klare Vorstellung, was er wollte."

Zu viel Ego wahrscheinlich. Eine Eigenschaft, die Glassberg von Bernstein nicht übernehmen will. (Ljubiša Tošic, 27.1.2024)