Karl Nehammer ließ sich in Wels von seiner Partei feiern, er wolle gestalten und nicht spalten.
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Und plötzlich ist er da. Die meisten Funktionäre merken es gar nicht, doch rechts in der Halle wird vereinzelt geklatscht. Passiert da etwas? Kein pompöser Einmarsch, keine getragene Musikuntermalung, 1500 Menschen tratschen – und der Kanzler geht einfach in die Halle hinein. "Hallo", sagt er, legt die rechte Hand ans Herz und begrüßt die wichtigsten Parteikollegen. Karl Nehammer kommt, wie er ist: eine Spur zu unaufdringlich. Aber das soll sich heute ändern. Es soll sein Moment werden, sein Durchbruch; der Tag, an dem seine Aufholjagd beginnt. Kann das gelingen?

ORF III Aktuell: Nehammer (ÖVP) präsentiert "Österreichplan"
Bundeskanzler und ÖVP-Bundesparteiobmann Karl Nehammer präsentiert in Wels den angekündigten "Österreich-Plan". Im Vorfeld haben viele BeobachterInnen darin den Auftakt des ÖVP-Wahlkampfs des Superwahljahres 2024 gesehen.
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Häppchen für Häppchen hatte die ÖVP über die Woche verteilt bereits Ausschnitte von Nehammers "Österreich-Plan" an Medien gespielt, mit dem der ÖVP-Chef in den Wahlkampf ziehen will. Es ist ein konservatives Mitte-Programm gespickt mit schlagzeilenträchtigen Forderungen für die rechte bis sehr rechte Zielgruppe: vermeintlich Faule bestrafen, Leistung belohnen, Ausländer ärgern, Polizei aufstocken, Steuern senken, Gendern verbieten. Wobei einige Forderungen in der Überschrift radikaler klingen, als sie es konkret dann sind.

Kickl anwesend, ohne da zu sein

"Für ihn ist Österreich eine Herzensangelegenheit. Und. Kein. Spiel", wird Nehammer in der Messe Wels vom Moderator begrüßt. Die Halle 19 bebt. Alle klatschen, manche trampeln im Sitzen. Jeder hier weiß, dass es um alles geht. Nehammer ist zwar Bundeskanzler, aber jetzt muss er sich den Rang als Kanzlerkandidat erkämpfen. Er muss den Sprung nach vorne schaffen, hinein in ein Kanzlerduell gegen FPÖ-Chef Herbert Kickl, der seit mehr als einem Jahr die Umfragen anführt – und zwar deutlich. Kickl, der ist an diesem Freitag anwesend, obwohl er nicht da ist.

Die ÖVP will mit ihrem neuen Wahlprogramm FPÖ-Sympathisanten ansprechen, gleichzeitig aber die bürgerliche Zielgruppe bedienen. Unter Sebastian Kurz galt das als Erfolgsrezept. Aktuell liegt die Volkspartei in der Sonntagsfrage aber seit mehreren Monaten auf Platz drei hinter Freiheitlichen und SPÖ. Und die meisten Forderungen aus Nehammers Plan sind nicht neu, sondern schon lange Teil des ÖVP-Programms. Reicht der neue Aufguss?

Türkis ist kaum noch etwas in der Messehalle Wels. Die unter Kurz etablierte Parteifarbe wird nach und nach eliminiert. Nehammer, der wird wie Kickl mit den Farben Rot-Weiß-Rot inszeniert. Auf der Bühne schimpft zur Einstimmung inzwischen ÖVP-Klubchef August Wöginger über den FPÖ-Chef, macht sich über "Pferdeentwurmungsmittel" und Kickls "hohes Ross" lustig. "Wir brauchen koan Kickl, wir brauchen an Nehammer!" Er schwört die Partei auf Wahlkampf ein.

"Das Jahr der Entscheidung"

Der "Österreich-Plan" der ÖVP hat 82 Seiten. Mehrere Monate hat die Partei daran gearbeitet. Im Zentrum stehen Verschärfungen bei Integration und Sozialleistungen, die Förderung von "Leistungsträgern" und der Erhalt der "österreichischen Identität". Vorgesehen ist etwa auch ein jährlicher 1000-Euro-Steuerbonus für Vollzeitkräfte, ein neues Nationalstadion und eine "Großelternkarenz". Das Modell aus Ungarn, durch das Omas und Opas gefördert Babybetreuung übernehmen könnten, hatte die Parteirebellin Laura Sachslehner vor einigen Monaten ins Spiel gebracht.

Dann betritt Nehammer die Bühne, Standing Ovations. Auch Nehammer weiß, dass es um alles geht. "Dieses Jahr 2024 ist das Jahr der Entscheidung", ruft er.

An der Rede soll der Kanzler nur mit seinem engsten Team gearbeitet haben. Nehammer ist niemand, der viele Menschen um sich schart. In der Regel berät er sich mit Wöginger, mit dem er auch privat befreundet ist, und seiner Ehefrau Katharina Nehammer, die in der Messehalle in der ersten Reihe sitzt und kräftig klatscht. Zu seinen politischen Vertrauten zählen noch sein Vize-Kabinettschef Daniel Kosak sowie Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka. Die Parteikommunikation läuft über Gerald Fleischmann, der schon den Aufstieg von Kurz medial orchestriert hatte.

Karl Nehammer bei seiner Rede in der Messehalle Wels: "Es gibt denjenigen, der steht für Zerstörung."
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"Es gibt denjenigen, der steht für Zerstörung", sagt Nehammer ernst ins Mikrofon. Auch er hat offenbar ständig Kickl vor Augen. Namentlich erwähnt er ihn aber kein einziges Mal. "Unser Ziel muss es sein, das Gute aus den Menschen herauszuholen." Er will sich als Gegenmodell zur FPÖ in Szene setzen: ähnliche Inhalte, andere Verpackung.

Karl Nehammer ist seit seiner Machtübernahme damit beschäftigt, ein Image für sich und seine Partei zu finden. In verschiedenen Phasen wurden dabei unterschiedliche Strategien zur Profilbildung gewählt. Zu Beginn definierten ihn seine Strategen vor allem in Abgrenzung zu Vorgänger Kurz. Nehammer sei ein "Stahlarbeiter", kein Polit-Popstar, hieß es damals. Doch die Umfragen blieben mies.

Dann versuchte Nehammer, sich als Staatsmann mit außenpolitischem Fokus zu inszenieren. Der Krieg in der Ukraine beschäftigte ihn, er reiste zu Putin, traf Selenskyj. Doch selbst in der ÖVP wurde weiterhin moniert, dass es Nehammer an Profil fehle. Hinzu kam die Teuerung – es gilt als alte politische Weisheit, dass Regierungspolitiker in Zeiten von Inflation kaum gewinnen können.

Also hielt Nehammer im Frühjahr 2023 eine Rede, durch die klar werden sollte, wofür er steht. Er sprach vom "Autoland" Österreich, verteufelte die "Klimakleber" und auch damals schon das Gendern. Nehammer sollte in ein blaues Lager strahlen. Doch es war die FPÖ unter Kickl, die in den Umfragen abhob, nicht er. Kann sich das noch ändern?

"Keine Denkverbote" und "gegen Hetze"

Nehammer spricht in seiner Rede frei, schaut fast nie auf seine Notizen. Es dürfe keine "Denkverbote" geben, es gehe um Leistung, um die Familien, Integration durch Anpassung. Er sei aber gegen Antisemitismus, gegen Radikalismus sowie "linke Träumer" und "gegen Hetze in diesem Land". Das Profil der Partei hat Nehammer mit seinem neuen Programm geschärft. Aber sein eigenes?

Nehammer ist weiterhin schwer definierbar. Selbst Parteikollegen haben Probleme, ihn in wenigen Worten zu umschreiben. Wahrscheinlich ist er schlichtweg nicht der Typ für ein klares Profil.

Nehammer ist ein Konservativer, gehört aber nicht zum rechten Flügel seiner Partei. In vielen Fragen ist er ein klassischer Bürgerlicher, allerdings ohne ein klassisch bürgerliches Auftreten zu haben. Die Themen Sicherheit, Verteidigung und Migration sind ihm wichtig, aber er ist auch ein Pragmatiker. Nehammer kommt aus dem Arbeitnehmerbund der Volkspartei, das leitet ihn bis heute in wirtschaftspolitischen Fragen. Er ist wie durch Zufall an die Spitze der Partei gespült worden; was er noch nie war, ist eine logische Nummer eins.

"Entscheidung zwischen ihm und mir"

Er selbst sieht das natürlich anders, muss er. "Es wird die Entscheidung zwischen ihm und mir", ruft Nehammer am Ende der Rede. Standing Ovations. In Wels lebt die Hoffnung.

In der gleichen Messehalle hatte einst der Sozialdemokrat Christian Kern seine Programmrede gehalten, als er Kanzler war. Danach, so sind in der SPÖ bis heute viele überzeugt, hätte Kern Neuwahlen ausrufen sollen. So hätte sich Kurz vielleicht verhindern lassen, meinen manche Sozialdemokraten.

Heute glaubt eigentlich niemand daran, dass Kickls Erfolgskurs durch eine vorgezogene Wahl gestoppt werden könnte. Und Nehammer ruft – anders als in manchen Medien erwartet – in Wels auch keine Neuwahlen aus. Ob die ÖVP nun beim Herbsttermin bleibt oder doch noch eine Zusammenlegung mit der EU-Wahl forciert?

Die Grünen rechnen weiterhin mit einer Wahl im Herbst. Außer: Nehammer schafft mit dieser Rede den Sprung nach vorne in den Umfragen, hinein in ein Kanzlerduell gegen Kickl. Dann, so hört man auch in der Volkspartei, würde gewiss bald gewählt. (Katharina Mittelstaedt, 26.1.2024)