Der britische Generalstabschef Patrick Sanders (links) und Verteidigungsminister Grant Shapps beim Besuch eines Trainingscamps in Ostengland vergangenen November.
Der britische Generalstabschef Patrick Sanders (links) und Verteidigungsminister Grant Shapps beim Besuch eines Trainingscamps in Ostengland vergangenen November.
AFP/POOL/ALASTAIR GRANT

Der britische Generalstabschef Patrick Sanders hat vergangene Woche angesichts der russischen Bedrohung Osteuropas von der Wiedereinführung der Wehrpflicht gesprochen. Seither diskutieren die Briten über den maroden Zustand ihrer Streitkräfte: Die Armee hat den tiefsten Personalstand seit Waterloo 1815, die Royal Navy findet keine Matrosen, ihre beiden Flugzeugträger kommen wegen dauernder Reparaturen selten zum Einsatz.

Beim hauseigenen Thinktank RUSI sprach General Sanders freimütig über die Bedrohung osteuropäischer Nato-Verbündeter durch das expansionslustige Russland unter Präsident Wladimir Putin. Heimische Politiker müssten "vorbereitende Schritte unternehmen, um unsere Gesellschaften notfalls auf einen Krieg einzustellen". Von der Wehrpflicht war nur andeutungsweise die Rede; dass die anschließende Diskussion sich vor allem darum drehte, dürfte dem 57-Jährigen aber nicht unrecht sein.

Analysten haben den Infanteriesoldaten als vergleichsweise offen und klar bei der Beurteilung der derzeitigen Bedrohungslage erlebt. Womöglich blieb ihm deshalb die Armee-intern erhoffte Berufung zum Chef des Verteidigungsstabs verwehrt. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt als Generalstabschef 2022 sprach er von der jetzigen Periode als "unserem 1937": Nato-Europa befinde sich nicht im Krieg, müsse aber rasch handeln, um nicht über kurz oder lang in einen Konflikt gezogen zu werden. Mit seiner aktuellen Rede zielte er in die gleiche Richtung wie der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius vergangenen Herbst: Deutschland müsse "kriegstüchtig" werden, glaubt der SPD-Politiker, um glaubwürdige Abschreckung darzustellen und genau dadurch einen Krieg zu vermeiden.

Kritik von Premier Sunak

Premier Rishi Sunaks Sprecher distanzierte sich deutlich vom General: Weder gebe es Pläne für die Einführung der Wehrpflicht, noch sei es "hilfreich, über hypothetische Konfliktszenarien zu reden". Letzteres freilich erledigen regierungsoffizielle Strategiepapiere schon seit Jahren. Bereits 2016 wurde der "Times" eine Armee-Analyse zugespielt: Moskaus konventionelle Waffen wie Granatwerfer, Artilleriegeschütze und Raketenabwehrsysteme seien den britischen "erheblich überlegen". Dadurch entstehe eine "unverhältnismäßige Verletzbarkeit".

Die konservative Regierung wirkt seit Jahren wenig klar in ihrer Haltung gegenüber der russischen Bedrohung und dem Zustand der Streitkräfte. Außenminister David Cameron spricht von "weltweit leuchtend roten Warnlampen". Aber Premier Sunak unternahm vergangenen Sommer nichts, um den seit langem effektivsten und populären, aber amtsmüden Verteidigungsminister Ben Wallace im Amt zu halten. Statt des früheren Garde-Hauptmanns führt nun der loyale, in der Sicherheitspolitik komplett unerfahrene Grant Shapps das schwierige Ressort.

Seit das renommierte Strategieinstitut IISS in der letztjährigen "Military Balance" die Zahl der aktiven Berufssoldaten auf 150.350 bezifferte, sind alle Waffengattungen der britischen Streitkräfte weiter geschrumpft. Einer Zählung des Verteidigungsministeriums zufolge standen im Oktober noch 139.490 Frauen und Männer unter Waffen. Hinzu kommt eine Reserve von rund 70.000.

Prekäre Staatsfinanzen

Die oppositionelle Labour-Party hat zusammengezählt, dass das Personal der Streitkräfte seit dem Amtsantritt der Konservativen 2010 insgesamt um rund 40.000 Menschen geschrumpft ist. Jedes fünfte Kriegsschiff und 200 Kampfjets wurden außer Dienst genommen. Freilich ist auch nach dem – den Umfragen zufolge wahrscheinlichen – Wahlsieg der Arbeiterpartei unter Keir Starmer kaum mit einem baldigem Anstieg des Wehrbudgets von zuletzt etwa 63 Milliarden Euro zu rechnen: Zu prekär stellen sich die Staatsfinanzen dar, zu hoch sind im Haushalt die Anteile für Gesundheit, Soziales und Schuldentilgung.

Der Zusammenstoß zweier Schiffe der Royal Navy im Hafen von Bahrain hat das Augenmerk der Briten auf den ebenfalls wenig vertrauenerweckenden Zustand ihrer Kriegsmarine gelenkt. Offenbar war bei einer Reparatur die Verkabelung des Minenjägers HMS Chiddingfold vermurkst worden, weshalb das Schiff statt vorwärts plötzlich rückwärts fuhr und den kleineren Minenjäger HMS Bangor gegen die Kaimauer drückte. Dabei entstanden gewaltige Löcher in der Seitenwand. Schon ist davon die Rede, das im kommenden Jahr zur Ausmusterung vorgesehene Schiff nicht einmal mehr zu reparieren.

Mangels Matrosen müssen demnächst auch zwei alte Fregatten eingemottet werden, ehe von 2026 an neugebaute Ersatzschiffe bereitstehen. Zwar verfügt die Royal Navy neuerdings wieder über zwei moderne Flugzeugträger, doch müssen beide Schiffe einstweilen ohne eigene Flugzeuge auskommen. (Sebastian Borger aus London, 28.1.2024)