Lenin Jubiläum Köhlmeier Schütte-Lihotzky Bolschewismus
Erzählerisch in See stechen, um den Gründervater der Sowjetunion als Fracht aufzunehmen: Michael Köhlmeier bereichert das Lenin-Jubiläumsjahr (100. Todestag) um eine erstaunliche Facette.
Ingo Petramer

Das Andenken Wladimir Iljitsch Uljanows, genannt Lenin (1870–1924), ist gehörig in Misskredit geraten. Zollte man früher der Entschlossenheit des russischen Berufsrevolutionärs Lob und Anerkennung, erkennt man in ihr jetzt vor allem Anzeichen eines ungebremsten Despotismus. Insofern gilt Lenins Anstrengung, nach 1917 die Sowjetmacht in Russland gegen alle Widerstände zu etablieren, unter Zuhilfenahme überschießender Gewalt, posthum als Fehlschlag.

Die Ruhigstellung als gelbstichige Mumie an der Kreml-Mauer tat ein Übriges, etwaige Ansprüche auf Nachruhm für immer zu diskreditieren. Doch hat es nur einer Zeitspanne von 100 Jahren seit Lenins Tod bedurft, um dem bolschewistischen Gründervater eine gründliche Rehabilitation zuteilwerden zu lassen. Den Versuch, eine unbekannte Facette Lenins zu ermitteln, verdanken wir dem Vorarlberger Meisterzähler Michael Köhlmeier.

Dessen kleiner Roman Das Philosophenschiff gleicht nicht nur einem verwirrend kunstvoll angelegten Spiegelkabinett. In ihm wird Lenin, dem Agitator mit der charakteristischen Schiebermütze, eine Form von Wiederbelebung zuteil, die ihm letztlich auch nichts nützt.

Die Bolschewisten, besorgt über die Widerstandskraft bürgerlicher Intelligenz, ließen 1922 mehrere "Philosophenschiffe" zu Wasser. Auf diese Nachen hatte man die besten Köpfe verladen, um sie als Exportgut nach Übersee zu verfrachten: Russlands Klügste, der Allgemeinheit als Aderlass dargebracht.

Kern der Klassenfeindschaft

Diesen Akt sinnloser Vergeudung verbrämt Köhlmeier kunstvoll. Erzählt wird aus der Perspektive einer Hundertjährigen. Die Architektin Anouk Perleman-Jacob hat sich, in einer Villa in Wien-Hietzing sitzend, ausgerechnet den (echten) Köhlmeier zum Chronisten ihres Vertrauens erwählt. Er soll die Geschichte ihres Lebens geraderücken. Ihre Ähnlichkeit mit der großen, weltbekannten Margarete Schütte-Lihotzy ist mitunter verblüffend.

Das anno 1922 gerade einmal 14-jährige Mädchen ist die Tochter einer Ornithologin und eines Architekten: In den Augen der Machthaber bildet die Kleinfamilie geradezu einen Zellkern der Klassenfeindschaft. Hinzu kommen personale Verstrickungen Perlemans, die tief hineinreichen in den nährstoffreichen Boden der Literatur-Moderne Sankt Petersburgs. Der Erzähler Köhlmeier erzählt somit, wie er – aufgrund der Engelsgeduld, die man ihm nachsagt – zum Nach-Erzähler der Jugend Perleman-Jacobs werden soll. Vertreter der bourgeoisen Klasse waren damals "Zweifelsfälle".

Aber wird unter den routinierten Fingern eines geriebenen Fiktionalisten nicht alles fadenscheinig und zweifelhaft? Er, Köhlmeier, habe einen "etwas windigen Ruf als Schriftsteller" zu verteidigen. Seine Auftraggeberin weiß auch den Grund dafür. Man glaube ihm oftmals nicht, wenn er die Wahrheit schreibe. Hingegen glaube man ihm, wenn er schummle. Aber es ist natürlich nichts als die Wahrheit, was Köhlmeier schreibt. Schließlich hat er schon früher einmal die Begegnung zwischen Prominenten wie Winston Churchill und Charlie Chaplin vergnüglich zu inszenieren gewusst.

Logik des Traums

Die Perleman-Jacobs landen, gemeinsam mit gerade einmal zehn Schicksalsgenossen, auf einem viel zu großen Vergnügungsdampfer. Wie nun Wladimir Iljitsch Lenin, von mehreren Schlaganfällen bereits schlimm gezeichnet, ausgerechnet auf dem Sonnendeck dieses Geisterschiffes zu sitzen gekommen ist: Man darf das Zustandekommen dieser Konstellation getrost der Logik des Traums zuschreiben.

Die junge Anouk ist von der Begegnung mit dem gebrechlich wirkenden Zausel nicht im Geringsten eingeschüchtert. Es muss, um der Chronistenpflicht zu genügen, auch der Hinweis gestattet sein, dass die für alle so wenig lustige Seefahrt für den Führer der werktätigen Massen ein eher abruptes Ende nimmt. Immerhin hat Lenin vor der Grobheit seines Nachfolgers Stalin testamentarisch gewarnt.

Mit all ihren kunstvollen erzählerischen Flauten ist Michael Köhlmeiers nasse Klassenfahrt ein langes, eindringliches Gedankenspiel. Kann sein, dass das Lenin-Jubiläum sich von diesem wunderbar boshaften Anschlag nicht mehr erholen wird. Kein Klassenkampf, sondern famose Spiegelfechterei. (Ronald Pohl, 29.1.2024)