Skorpionsfliege
Männliche Skorpionsfliegen haben ein auffälliges Kopulationsorgan am Hinterleib.
IMAGO/Pond5 Images

Mit welchem biologischen Geschlecht wir zur Welt kommen, beeinflusst unser ganzes Leben. Das ist nicht nur bei uns Menschen so, sondern bei allen Lebewesen, die unterschiedliche Geschlechter ausbilden. Die Basis für dieses grundlegende Merkmal steckt in den Genen. Aber wie es im Detail zustande kommt, kann je nach Organismengruppe ganz verschieden sein. Das trifft auch auf die große Gruppe der Insekten zu, die rund 70 Prozent aller Tierarten ausmachen. Forschende des Institute of Science and Technology Austria (Ista) haben nun bei Skorpionsfliegen Erstaunliches zur Geschlechterbestimmung herausgefunden.

Chromosomenpaar bei Menschen

Aber beginnen wir von vorne: Jede Art besitzt eine bestimmte Anzahl von Chromosomen – wir Menschen haben zum Beispiel 46 davon. Diese liegen in Paaren vor, die unter dem Mikroskop jeweils sehr ähnlich aussehen und auch dieselben Erbinformation an denselben Stellen tragen. 22 der menschlichen Chromosomen sind praktisch identisch, doch ein Paar ist anders, denn es ist bei Frauen und Männern jeweils unterschiedlich gestaltet: Während Frauen zwei sogenannte X-Chromosomen haben, enthalten die Zellkerne von Männern jeweils ein X- und ein deutlich kleineres Y-Chromosom. X und Y sehen einander gar nicht ähnlich und haben auch nur wenige Abschnitte gemeinsam, bestimmen aber unser biologisches Geschlecht.

Skorpionsfliegen bei der Paarung
Ghost of Eywa

Diese Art der Geschlechtsbestimmung ist aber nicht die einzige: So sind etwa bei den Vögeln Chromosomen mit dem Namen W und Z dafür zuständig, und bei ihnen funktioniert die Sache genau umgekehrt: Hier werden aus ZZ Männchen und aus WZ Weibchen. Die meisten Insekten haben hingegen ein XX/X0-System: Weibchen haben zwei X-Chromosomen, also XX, Männchen hingegen nur eines, also X-Null. Bei bisher einer Million bekannter Insektenarten gibt es allerdings noch mehr als genügend Raum für Abweichler. Zum Vergleich: Von Wirbeltieren, also Fischen, Amphibien, Reptilien, Vögeln und Säugern, sind gerade einmal 75.000 Arten bekannt.

Und während bei den Säugern das Geschlecht durchwegs und seit langer Zeit nach der XX/XY-Methode festgelegt wird, sind innerhalb der Insekten verschiedene Varianten bekannt. "Säuger sind diesbezüglich langweilig", befindet Clementine Lasne vom Ista. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen von der Vicoso-Gruppe des Ista widmete sie sich kürzlich der Aufgabe, Licht in eine bisher wenig erhellte Ecke des Insektenreichs zu bringen, nämlich in die der Skorpionsfliegen (Panorpidae). Gefördert wurde das Forschungsprojekt vom Wissenschaftsfonds FWF.

Das Geheimis der Skorpionsfliegen

Skorpionsfliegen klingen vielleicht gefährlich, sind aber völlig harmlos. Ihren Namen verdanken sie dem auffälligen Kopulationsorgan der Männchen, das diese ähnlich über dem Hinterleib tragen wie Skorpione ihren Stachel. Und obwohl kaum jemand hierzulande die bis zu drei Zentimeter großen Insekten kennt, sind sie weder selten noch Exoten. De facto brauchte Lasne zum Sammeln ihrer Untersuchungsobjekte nur vor die Tür zu gehen: Im Wienerwald, der das Ista umgibt, sitzen die Tiere gerne auf großen Brennnesselblättern. Dass man sie trotzdem oft nicht entdeckt, liegt an den schwarzen Markierungen auf ihren Flügeln, die sie im Wechsel aus Licht und Schatten oft schwer sichtbar machen.

Skorpionsfliege
Auch in den Wäldern um den Ista-Campus sind Skorpionsfliegen zu finden.
Jackson W. Ryan / ISTA

In Österreich kommen drei Arten von Skorpionsfliegen vor, nämlich Panorpa communis, P. germanica und P. cognata. Systematisch sind sie eine Familie der Schnabelfliegen, einer Gruppe, die stammesgeschichtlich den Echten Fliegen (Diptera) nahesteht. Zu diesen zählen auch die Stubenfliege und die genetisch bestens erforschte Fruchtfliege Drosophila. Diese Verwandtschaft ist es auch, was die Skorpionsfliegen für die Ista-Forschenden so attraktiv macht: Die Gruppe um Beatriz Vicoso versucht unter anderem herauszufinden, wie es dazu kam, dass es unter den Echten Fliegen viele gibt, die in puncto Geschlechtschromosomen aus der Reihe tanzen.

Seit 400 Millionen Jahren

Im Unterschied zu sehr vielen anderen Insekten, wie Schaben, Grashüpfern oder Käfern, besitzen sie nicht das alte X-Chromosom, sondern nur noch einen kümmerlichen Rest davon, das sogenannte Müller Element F. Allein das ist erstaunlich. "Es gibt das X-Chromosom in den Insekten seit rund 400 Millionen Jahren, also muss es prinzipiell sehr erfolgreich sein", gibt Lasne zu bedenken, "und dann wird es bei den Fliegen plötzlich massiv reduziert. Die Frage ist, warum."

Um diese Vorgänge besser zu verstehen, suchte die Vicoso-Gruppe nahe mit den Dipteren verwandte Insekten zum Vergleich und fand sie in den Skorpionsfliegen. Allerdings war deren Genom zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschlüsselt, sodass Lasne und ihre Kolleginnen zuerst einmal diese Aufgabe in Angriff nehmen mussten. Wie sich bei den Gen-Analysen herausstellte, verfügen Skorpionsfliegen über ein X-Chromosom, das einerseits dem der stammesgeschichtlich viel älteren Schaben und Heuschrecken ähnelt, gleichzeitig aber auch Gemeinsamkeiten mit dem Müller Element F der Echten Fliegen aufweist: Wie dieses erscheint es nämlich unter dem Mikroskop punktförmig.

Keine Geschlechtsinformation

Das legt nahe, dass das X-Chromosom und das Müller Element F stammesgeschichtlich die gleiche Herkunft haben. Allerdings unterscheiden sie sich in einem Aspekt deutlich: Während das Müller Element F mit rund 80 Genen extrem informationsarm ist, enthält das X-Chromosom von Panorpa cognata bis zu 1.300 davon. Tatsächlich ist es daher laut Lasne wahrscheinlich, dass das Müller Element F keine Rolle mehr bei der Geschlechtsbestimmung spielt und dass die dafür nötigen Gene mittlerweile auf diversen anderen Chromosomen liegen. Welche das sind, ist derzeit noch unbekannt.

Diesbezügliche Umbauten haben bei vielen Insekten im Lauf der Stammesentwicklung immer wieder stattgefunden, was die Verhältnisse spannend, wenn auch schwierig zu entwirren macht. Mit den neuen Erkenntnissen, die auch in der Zeitschrift "Molecular Biology and Evolution" veröffentlicht wurden, ist, wie Lasne es formuliert, "das Riesenpuzzle um ein Teilstück reicher, das bisher gefehlt hat". (Susanne Strnadl, 2.2.2024)