Die letzte große Eiszeit, die Weichsel-/Würm-Kaltzeit, erreichte in Europa ihren Höhepunkt vor rund 30.000 Jahren. Faszinierenderweise fällt in diese Zeit auch das künstlerische Erwachen der europäischen Jäger-und-Sammler-Gesellschaften: Die "Venus von Willendorf" stammt aus dieser Ära, und auch die ältesten bisher bekannten figürlichen Kleinkunstwerke sind nicht viel früher entstanden. In der sogenannten Gravettienzeit kam auch die Schmuckherstellung in Europa gleichsam in Fahrt.

Anhand dieser Schmuckobjekte, die Menschen vor 34.000 bis 24.000 Jahren trugen, analysierte nun ein Forschungsteam, wie viele kulturell einander nahestehende Gruppen Europa zu dieser Zeit bewohnten. In ihren Berechnungen, in die auch mehrere in und um Krems (NÖ) gemachte Funde eingingen, identifizierten sie neun Kulturkreise der Gravettienzeit. Die heutige Wachau lag demnach damals schon im Spannungsfeld zwischen Zentral- und Osteuropas Kulturräumen.

Schmuck aus der Gravettienzeit lässt auf mindesten neun damals in Europa vorherrschende Kulturen schließen. Das Bild zeigt die Rekonstruktion eines Jägers und Sammlers aus dieser Ära, basierend auf archäologischen Funden in Arene Candide in Italien.
Illustr.: Tom Bjoerklund

Funde am Wachtberg in Krems

Für ihre nun im Fachjournal "Nature Human Behaviour" präsentierte Studie trug das Team um Erstautor Jack Baker von der Universität Bordeaux (Frankreich) Informationen über insgesamt 134 Schmuckstücke zusammen, die an 112 während der Gravettienzeit besiedelten Fundorten ausgegraben wurden. An 17 dieser Stätten wurden auch Gräber mit Überresten von 32 Individuen gefunden.

So auch am Wachtberg in Krems, wo österreichische Wissenschafterinnen und Wissenschafter im Jahr 2005 unter mächtigen Lössschichten eine weltweit einzigartige Grabstätte fanden: eine rund 31.000 Jahre alte Doppelbestattung zweier Säuglinge unter einem Mammut-Schulterblatt. In der Gravettienzeit entstand auch die "Venus von Willendorf", die Steinzeit-Jäger-und-Sammler dort vor rund 30.000 Jahren zurückließen und 1908 gefunden wurde. Auch auf diesen Fundort in der heutigen Wachau nimmt die Studie Bezug.

Alltagsschmuck

Für die Forschenden eignen sich Schmuckgegenstände gut zur Analyse von kulturellen Bezügen der einstigen Gruppen zueinander – insbesondere, weil Analysen von DNA aus dieser Zeit rar sind. Der Wachtberg-Fund ist eine Ausnahme: So konnte etwa anhand des Erbguts der Säuglinge geklärt werden, dass es sich tatsächlich um männliche eineiige Zwillinge handelte. Baker und Kollegen bezogen auch Erbgutdaten in ihre Studie mit ein, sehen aber in Schmuckstücken besonders lohnende Hinweise auf kulturelle Zugehörigkeit, da diese – anders als manche Grabbeigabe – vermutlich täglich getragen wurden.

Da in der Gravettienzeit die Praxis des Herstellens vielfältiger solcher Objekte aus Muschelschalen, allerlei Tierknochen, Zähnen, Geweihen, Bernstein oder anderen festen Materialien einen starken Aufschwung erlebte, könnten diese Dinge und ihre Beschaffenheit auch als eine Art Erkennungsmerkmal für die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen gedient haben, schreiben die Wissenschafterinnen und Wissenschafter in ihrer Arbeit.

Venus von Willendorf
Die knapp elf Zentimeter hohe "Venus von Willendorf" ist eines der wichtigsten Zeugnisse beginnender Kunst in Europa. Eine Studie konnte 2022 nachweisen, dass das Material der Figurine wahrscheinlich aus Norditalien stammt.
Foto: Gerhard Weber, Universität Wien

Neun Kulturkreise

Die statistischen Analysen der Forschenden legen nun nahe, dass es über diesen langen Zeitraum während des mittleren Jungpaläolithikums neun Kulturkreise gegeben haben könnte. Sechs davon identifizierten sie auf Basis der Funde in einstigen Siedlungen, drei davon auf Basis der Grabstätten. Zwischen den "Clustern" gibt es teilweise Überschneidungen.

Demnach liegen die Funde aus dem heutigen Niederösterreich, die auch die früheren Siedlungen und nunmehrigen Grabungsstätten Grub/Kranawetberg und Ollersdorf/Heidenberg umfassen, wie etwa auch jene im Nahe der österreichischen Grenze gelegenen Dolní Vestonice (Tschechien) im zentraleuropäischen Kulturkreis, der sich vom heutigen Süddeutschland über weite Teile des Alpen- und Karpatenbogens erstreckt. Geht man aber von den genetischen Daten und den Informationen, die die Grabstätten in Niederösterreich und Tschechien beinhalten aus, seien diese eher in Richtung osteuropäischer Cluster zuzuordnen.

Bisher unbekannte Kulturen

Laut den Autoren zeigt die neue Analyse, dass die vermuteten Zugehörigkeiten zu den verschiedenen Kulturkreisen nicht nur von geografischen Naheverhältnissen bestimmt wurden. Zudem finden sich Hinweise auf Kulturkreise, etwa im Osten Europas oder auf der Iberischen Halbinsel, die zuvor nicht im Blick der Wissenschaft waren und zu denen es noch keine genetischen Daten gibt. Insgesamt scheint es in der Gravettienzeit bereits eine breitere Palette an kulturell verbundenen Gruppen in Europa gegeben zu haben als bisher vermutet. (red, APA, 29.1.2024)