Eine regelmäßig wiederkehrende Übung im medialen Umfragekarussell betrifft die Frage nach dem beliebtesten Dialekt. In Österreich haben dabei Kärntnerisch und Tirolerisch besonders gut abgeschnitten, das Wienerische erreichte in einem anderen Umfragesample den letzten Platz. In Deutschland erreichte viele Jahre hindurch das Bairische die meiste Zustimmung – aber auch Wienerisch oder "Österreichisch" gilt verlässlich als Anwärter auf einen Spitzenplatz. Während hierzulande – vor allem in Westösterreich – das Wienerische als wenig attraktive "großkopferte" Varietät gilt, verkörpert sie aus bundesdeutscher Sicht alles das, was als typisch Österreichisch angesehen wird: Gemütlichkeit und Laissez-faire zwischen Wiener Schnitzel und Kaiserschmarrn.

Zwei Köpfe mit Sprechblasen
"I iss goar nia koan Kaas ned" – was oft als "falsches" Sprechen abgetan wird, kann auch als sprachliche Vielfalt und "innere Mehrsprachigkeit" beschrieben werden.
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Es ist leicht zu sehen, was solchen sprachlichen Bewertungseinstellungen zugrunde liegt: Die stereotypischen Eigenschaften, die mit der jeweiligen Sprechergruppe verknüpft sind, werden auch den jeweiligen Sprachvarietäten zugeschrieben. Besonders aufschlussreich für diesen Blog-Beitrag ist allerdings, dass in einer der jüngsten deutschen Umfragen ausgerechnet das Hamburgische als gesamtdeutscher Sieger – noch vor dem Bairischen – auserkoren wurde. Dies ist schon alleine deshalb frappierend, weil das Niederdeutsche (das sogenannte "Platt“) in ganz Norddeutschland so gut wie ausgestorben ist.

Ich selbst habe vor einigen Jahren Hamburger Platt aufzunehmen versucht und wurde nach intensiver Sprecher-Suche schließlich zu einem Hamburger "Dialektpapst" verwiesen – auch er hatte sich jedoch, wie sich herausstellte, diesen Dialekt erst sekundär angelernt – es bleibt also mehr als rätselhaft, bei welcher Gelegenheit das Hamburger Platt jemals von denjenigen tatsächlich gehört hätte werden können, die diese Bewertung abgaben.

Non-Standard: "Falsch" oder bloß "anders"?

Dieser kleine Ausflug in die Dialekteinschätzung ist deshalb besonders instruktiv, weil hier deutlich wird, wie sehr unsere Sprachwahrnehmung und unsere "wohlbegründeten" Ansichten zur Sprache von subjektiven Befindlichkeiten und "Sprachmythen" geprägt sind. Ein geradezu mantra-artig vorgetragenes und allenthalben zu hörendes Fehlurteil betrifft die alltagssprachliche – mehr oder weniger dialektal geprägte – Varietät als "schlampig" oder gar als "falsch". So lautet beispielsweise in einigen salzburgischen und angrenzenden Dialekten das feminine Possessivpronomen gleich wie das maskuline – es heißt also etwa für "Mutters Schuhe" hier im Dialekt "der Mutter seine Schuhe" (statt, wie ansonsten üblich, "der Mutter ihre Schuhe“).

Nicht selten bekommt man als Sprachforscher die "Entschuldigung" gleich mitgeliefert: Man wisse ja eh, dass das "falsch" sei, aber es werde hier halt noch so gesagt. Gleiches gilt für viele andere Merkmale – denken wir nur an die mehrfache Verneinung ("I iss goar nia koan Kaas ned"), die allen dialektsprechenden Kindern so nachhaltig ausgetrieben wurde, dass mittlerweile diese Negationsmöglichkeit auch in den Dialekten kaum mehr auffindbar ist. All diese sprachlichen Eigenheiten sind jedoch keinesfalls "falsch", sondern ganz einfach die korrekten grammatischen Regularitäten einer von der Standardsprache verschiedenen Sprachvarietät.

Im Zusammenhang damit finden wir auch einen weithin verbreiteten, besonders tiefsitzenden Mythos – die Annahme, dass von der Elaboriertheit des Sprachausdrucks ein direkter Rückschluss auf die kognitiven Fähigkeiten der Sprechenden gezogen werden könne: Je komplexer der Satzbau, umso komplexer das Denkvermögen. Und natürlich trifft dieses Verdikt hierzulande wiederum in erster Linie die Dialektsprecher.

Was in grauer sprachwissenschaftlicher Vorzeit bereits als bildungsferne "Bauernsprache" verunglimpft wurde, bekam in den Anfangszeiten der Soziolinguistik ein neues Etikett: Als "restringierter Code" sollte der Dialekt tunlichst beseitigt werden, weil er zur "sozialen Ungleichheit" beitrage und diese verschärfe, "kompensatorischer Sprachunterricht" wurde eingefordert und mit einschlägigen Lernbehelfen auch deutschlandweit propagiert. Übersehen wurde dabei nur, dass schon der zugrundeliegende Komplexitätsbegriff ungeklärt blieb und überdies weder der Gebrauch des Dialekts noch der der Standardsprache Auskunft über die intellektuelle Qualität des Gesagten geben kann: In beiden Sprachvarietäten lässt sich intellektuell Anspruchsvolles und Anspruchsloses gleichermaßen formulieren.

Abwertung des Dialekts hat Tradition

Die angesprochene Abwertung regionaler Sprachausprägungen hat auch hierzulande eine lange und tiefsitzende Tradition; besonders eindringlich sichtbar wird das in jener Einschätzung der östereichischen Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner, die in ihrem autobiographischen Werk "Die Waffen nieder" (1889, 169f) freimütig bekennt: "Was mir an den Norddeutschen besonders wohlgefiel, war die Sprache. Nicht nur, weil dieselbe den Accent meines Mannes aufwies – eine seiner Eigentümlichkeiten, in welche ich mich zuerst verliebt hatte – sondern weil sie mir, im Vergleich zu der in Österreich üblichen Redeweise, ein höheres Bildungsniveau zu bekunden schien; oder vielmehr, nicht nur schien, sondern in der That bekundete. […] Gemütlich mögen wir immerhin unsere Sprache nennen […] – eine Inferiorität stellt sie jedenfalls vor. Wenn man Menschenwert nach der Bildungsstufe mißt – und welchen richtigeren Maßstab gäb' es wohl, als diesen? – so ist der Norddeutsche um ein Stückchen mehr Mensch, als der Süddeutsche."

Mit dieser Einschätzung des zwar "gemütlichen", aber eben letztlich inferioren Österreichischen formulierte Suttner eine nach wie vor weit verbreitete Spracheinstellung, die sich besonders skeptisch gegenüber dialektalen Sprechweisen zeigt. Wir sehen gegenwärtig, dass die jüngsten Schülergenerationen in vielen städtischen oder städtisch beeinflussten Gebieten nur mehr marginale Dialektkompetenz besitzen – und wer hat nicht schon selbst die Beobachtung gemacht, dass Eltern, die sich gerade noch einigermaßen dialektal miteinander unterhalten haben, schlagartig in eine standardnahe, ja oftmals hyperkorrekte Sprechweise wechseln, sobald sie mit ihren Kindern reden? Ganz offenkundig schlägt hier das geringe "verdeckte" Prestige des Dialekts durch – nach außen hin zwar oftmals positiv beurteilt, de facto aber abgewertet.

"Bühnenaussprache" oder "Gebrauchsstandard"?

Noch ein weiteres hartnäckig überdauerndes Klischee wird in Suttners historischer Bewertung erkennbar: Dass es sich nämlich bei der österreichischen Version der deutschen Standardsprache um ein weniger "reines", "gutes" Deutsch handle. Das führt uns zur Grundfrage, was denn nun "gutes Deutsch" – verstanden als gesprochene Standardvarietät, nicht als Stilvorgabe für "schöne Sätze" in geschriebenen Texten – überhaupt sein könnte. Lange Zeit galt dafür das stark norddeutsch geprägte Aussprachewörterbuch von von Theodor Siebs als Referenzwerk.

Die geringe Praxisrelevanz und offenkundige Realitätsferne solcher Normvorgaben führten jedoch zu einem alternativen Ansatz: Das Herunterbrechen auf das realistischere Konzept eines "Gebrauchsstandards", wie er in der sorgfältigen Sprechweise in formelleren Situationen von schulisch hinlänglich gebildeten Sprechenden realisiert wird. Mit diesem Zugang wird ein weiterer Sprachmythos entlarvt – dass es nämlich ein für alle deutschsprachigen Regionen gültiges (Standard-)Deutsch gäbe. Die Sprachkarten des AADG, entstanden aus Sprachaufnahmen mit gymnasialen Oberstufenschülern im gesamten deutschen Sprachraum, zeigen deutlich die ausgeprägte regionale Vielfalt der deutschen Standardsprache.

Die kritische Sichtung gängiger Sprachmythen lässt schlussendlich auch die schulmeisterliche Aufforderung zum "schön Sprechen" in einem anderen Licht erscheinen. Es sollte daraus die Einsicht erwachsen, dass wir uns ganz vorbehaltlos der großen Variationsbreite des Deutschen bedienen können und sollen. Einzelne Sprachvarietäten sind nicht "besser" oder "schlechter", sondern jeweils "anders" – und sie nehmen auch einen je spezifischen Platz in unseren Kommunikationswelten ein: die Standardsprache als überregionales Kommunikationsinstrument der "Distanz", Umgangssprachen und Dialekte als Sprachen des Alltags, der "Nähe". Je besser unsere "innere Mehrsprachigkeit" ausgeprägt ist, desto souveräner lassen sich ganz unterschiedliche Kommunikationssituationen und -anforderungen bewältigen. (Hannes Scheutz, 1.2.2024)