Neue Hoffnung für Nordirland: Nach einer dramatischen Sitzung bis in die Nacht hat die führende politische Kraft der protestantischen Bevölkerung ihre Blockadehaltung aufgegeben. Für seine DUP sei dies ein entscheidender Moment, für Nordirland "ein guter Ausgang", sagte der Parteivorsitzende Jeffrey Donaldson nach dem Votum seines Parteivorstands. In London kündigte Dienstagmittag der zuständige Minister Chris Heaton-Harris eine neue Gesetzgebung noch für diese Woche an. Damit wäre der Weg frei für die Wiederkehr der Belfaster Allparteienregierung. Und zugleich dürfte Michelle O'Neill die erste katholisch-nationalistische Regierungschefin in der gut hundertjährigen Geschichte der britischen Unruheprovinz werden.

Michelle O'Neill steht vor dem Sprung in das Amt der nordirischen Regierungschefin.
AP/Peter Morrison

Die 47-jährige Regionalleiterin der Sinn-Féin-Partei (SF), einst politischer Arm der Terrortruppe IRA, drängte umgehend zur Eile. Zum Wohl der rund 1,8 Millionen Nordiren gebe es "dringenden Handlungsbedarf", sagte O'Neill. Die britische Regierung unter Premier Rishi Sunak hatte dringend nötige Finanzhilfe für die wirtschaftsschwache Region von 3,3 Milliarden Pfund (3,9 Milliarden Euro) davon abhängig gemacht, dass gewählte Politiker in Belfast selbstständig über ihren Haushalt entscheiden. Zuletzt mussten dies die örtlichen Spitzenbeamten unter Aufsicht aus London erledigen.

Tradition seit Karfreitagsabkommen

Zu den wichtigsten Neuerungen des Friedensabkommens vom Karfreitag 1998, das den blutigen, rund 30 Jahre währenden Bürgerkrieg beendete, gehört eine Allparteienregierung in Belfast. Sie soll die Repräsentanz der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen sicherstellen, liegt aber brach, sobald eine der beiden größten Parteien, derzeit SF und DUP, ihre Beteiligung verweigert. Im Lauf der Jahre war dies einmal die Katholiken-, dann wieder die Protestantenpartei. Seit knapp zwei Jahren blockiert die DUP und begründet dies mit Handelshindernissen zwischen Nordirland und der britischen Hauptinsel, die durch den Brexit entstanden sind. Denn die offene innerirische Landgrenze zieht nach allen Vereinbarungen mit der EU eng begrenzte Zollkontrollen an der Seegrenze nach sich. Diese sollen nun durch das neue Gesetz weiter minimiert werden.

Wie weit London der DUP und ihrem vorsichtig taktierenden Chef entgegenkommen kann, hängt nicht zuletzt von Brüssel und Dublin ab. Für die machtbewussten Protestanten würden der Zusammentritt des Regionalparlaments und die Neuformierung der Parteien auf jeden Fall eine bittere Pille bedeuten: Weil bei der Regionalwahl 2022 SF die Nase vorn hatte, kann O'Neill Anspruch auf das symbolisch wichtige Amt der Regierungschefin erheben. Faktisch handelt es sich um eine Doppelspitze; da Donaldson im Unterhaus bleiben will, könnte seine enge DUP-Verbündete Emma Little-Pengelly für Belfaster Frauenpower sorgen.

Minister Heaton-Harris gilt in London als überzeugter Brexiteer, was ihm das Vertrauen der DUP einbrachte, die als einzige größere nordirische Partei beim Referendum 2016 den EU-Austritt befürwortet hatte. Dieser strategischen Fehlentscheidung ließen Donaldson und Co im Unterhaus die eisenharte Ablehnung aller Brexit-Kompromisse folgen. Die jetzige, unbefriedigende Situation haben sie sich also in weiten Teilen selbst zuzuschreiben. Unverdrossen behauptete Donaldson, seine neue Vereinbarung mit der Londoner Regierung sichere Nordirlands Verankerung im Vereinigten Königreich.

Mächtige Feinde

Dass der Vorsitzende mächtige Feinde im eigenen Lager hat, verdeutlichte ein an Spionageromane erinnernder Vorgang: Während der eigentlich hinter verschlossenen Türen stattfindenden Vorstandssitzung berichtete der jedem Kompromiss ablehnend gegenüberstehende Loyalist Jamie Bryson auf X immer neue Details aus Donaldsons Rede. Der erzürnte Vorsitzende ließ daraufhin die Mobiltelefone der Anwesenden einsammeln, Bryson machte unbeirrt weiter. Da habe ein "hochstehendes Mitglied" der DUP-Führung eine elektronische Wanze am Körper getragen und damit die Diskussion live an Bryson übertragen, berichtete am Dienstag die BBC. Donaldson gab sich enttäuscht über den "Verrat" an seiner Partei.

Der 34-jährige Bryson steht für die neueste Verjüngung einer uralten Parole unter nordirischen Protestanten: "No surrender", kein Verzicht auf Macht und Einfluss. Freilich ist die einst dominante Mehrheit zur starken Minderheit geschrumpft, und zwischen den religiösen Blöcken hat sich die liberale Allianzpartei etabliert. Sollte SF in diesem Jahr die Regierungsübernahme in Dublin gelingen, worauf die Umfragen hindeuten, könnte es noch in diesem Jahrzehnt zur Abstimmung über die Wiedervereinigung der 1921 politisch getrennten Grünen Insel kommen. (Sebastian Borger aus London, 30.1.2024)