Jüdisches Museum Wohlfahrt Fürsorge Rotes Wien
Warnung vor dem Untergang aus Mangel an Fürsorge gegenüber unserer Welt: "Armageddon" (2013/17) von Sasha Okun.
Marx / Artso Limited

Man kann und darf von der Wichtigkeit, die die jüdische Religion dem irdischen Leben beimisst, durchaus beeindruckt sein. Das Gebot der Lebensrettung ("pikuach nefesch") ist für Menschen jüdischen Glaubens von solcher Wichtigkeit, dass allein die Befürchtung, jemand schwebe in Lebensgefahr, zum Brechen der Schabbathruhe berechtigt.

Nicht zuletzt durch die Autorität der Thora sind rechtgläubige Juden dazu angehalten, rechtschaffen zu sein, Mildtätigkeit zu üben und Care-Arbeit zu leisten. Who Cares? nennt sich eine neue Ausstellung im Wiener Jüdischen Museum, die ohne besondere Systematik "jüdische Antworten auf Leid und Not" zu geben verspricht.

Man könnte meinen, die in Aussicht gestellte Mehrzahl von Repliken schließe die wesentlichste ein: wie dem Antisemitismus, der seit den Massakern vom 7. Oktober neu grassiert, entschieden entgegenzutreten sei. Doch in der Wiener Dorotheergasse argumentiert man historisch. Mit einer Vielzahl von Zeugnissen wird ausgerechnet die Heilkunst ins Licht der Vitrinen gerückt, aus der jüdischen Wertschätzung des Lebens heraus.

Vielfältig sind die Proben einer Daseinsvorsorge, die im Schoß der jüdischen Gemeinden Züge einer beispielhaften Sozialorganisation annahm. Gemeindekassen und Armenkessel wurden gespeist. Die Verpflichtung zum Krankenbesuch verband von Anfang die Sphäre der Gesundheit mit der Sorge ums gemeinschaftliche Wohl.

Anschaulich sind daher nicht nur die ausgestellten Amulette für Wöchnerinnen und anmutige Handwaschgefäße. Spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ergreift der Geist der Wissenschaft von reiner Mildtätigkeit Besitz. Mit der Gründung israelitischer Humanitätsvereine, der Einrichtung von Spitälern strahlt jüdische Care-Arbeit weit aus in die Gesellschaft. Zugute kommen die Früchte solcher Arbeit auch allen denjenigen, die, wohl versorgt, abstoßenden Antisemitismus pflegen.

Medizinischer Abriss

Beeindruckend die Übersicht, die Caitlin Gura und Marcus Patka kuratorisch liefern: Der dichte Themenparcours geizt nicht mit Dokumenten und Personenfahnen. Er ergibt auf die Schnelle einen kleinen Abriss medizinischer Moderne, erzählt in atemloser Hast von Chirurgen. Er würdigt aber auch die Rolle jüdischer Frauen, die sich als Fürsorgerinnen, Kindermedizinerinnen und diagnostisch gegen zahlreiche Widerstände bewährten.

Genannt sei exemplarisch Berta Aichinger, Mutter der Dichterin Ilse Aichinger. Die Allgemeinmedizinerin arbeitete als Schulärztin für Mädchen und angesehene Hygienikerin, ehe sie nach 1938 als Hilfsarbeiterin in einer Lederfabrik zwangsverpflichtet wurde. Die Nazidiktatur überlebte sie, indem man sie versteckte. Noch in der Nachkriegszeit machte sich Berta Aichinger um Fortbildung und Mütterberatung verdient.

Aus jüdischer Initiative entstanden die segensreichsten Errungenschaften: Die Rothschildgärten auf der Hohen Warte stellten ihre blumenduftende Pracht der Allgemeinheit zu Verfügung, Eintrittserlöse wurden umgehend für die Wohlfahrt flüssig gemacht.

Häufchen Scherben

Von aktuellen Krisen bleibt die Gesamterzählung der Ausstellung Who Cares? merkwürdig unbelastet. So gewinnbringend die Wiederbegegnung mit Zwangsjacken und Scheidenspülgeräten sein mag: Alle Bemühungen um Fürsorge müssen scheitern, wenn der Antisemitismus als "das Gerücht über die Juden" (Theodor W. Adorno) kursiert, in unseren Gesellschaften Niederschlag findet.

Am berührendsten daher ein Häufchen Scherben. Zerbrochenes Steingut, überliefert aus dem Sanatorium Breitenstein auf dem schönen Semmering (1903–1938). Das Erholungsheim der jüdischen Philanthropin Henriette Weiss beherbergte nicht nur Bedürftige, sondern auch Gäste wie Karl Seitz, Arthur Schnitzler oder Walter Benjamin. Von den Nazis beschlagnahmt und den Russen besetzt, wurde das Gebäude 1955 von einheimischen Plünderern ausgeweidet. Sogar Rohre und Leitungen wurden aus den Wänden gestemmt.

2006 musste Henriette Weiss’ Großneffe die restituierte Ruine auf eigene Kosten abreißen lassen. (Ronald Pohl, 31.1.2024)