Überraschender Wechsel an der Spitze der Vertretung der Europäischen Kommission in Wien: Botschafter Martin Selmayr wechselt mit Wirkung von Donnerstag (1. Februar) an die Universität Wien. Der 53-jährige Deutsche wird dort eine Gastprofessur übernehmen, bis er laut Aussendung der EU-Kommission vom Mittwoch im Herbst "eine neue europäische Aufgabe übernehmen wird".

Selmayr, der seit November 2019 die Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich geleitet hat, wird eine Professur zu Europarecht am Institut für Innovation und Digitalisierung im Recht der Universität Wien übernehmen – Schwerpunkte: Fragen des EU-Digitalisierungsrechts und des EU-Nachhaltigkeitsrechts in Forschung und Lehre. Es ist dies keineswegs eine akademische Premiere für den Deutschen: Er hatte zuvor schon an der Universität Saarbrücken und an der Donau-Universität Krems gelehrt. Seit 2022 ist er zudem ehrenamtlicher wissenschaftlicher Direktor des Centrums für Europarecht an der Universität Passau.

Martin Selmayr, bisher Vertreter der EU-Kommission in Österreich, übernimmt eine Gastprofessur an der Universität Wien.
APA/HELMUT FOHRINGER

Als "EU-Botschafter" – wie er oft und gern, aber terminologisch nicht ganz korrekt oft genannt wurde – erlebte Selmayr in Österreich politisch spannende Zeiten. Kurz nach Beginn seiner Mandatsperiode brachte die Covid-Pandemie nicht nur Österreich, sondern die ganze Welt durcheinander. Und wegen diverser innenpolitischer Krisen und Skandale lernte Selmayr innerhalb seiner ersten zwei Jahre in Wien eine Bundeskanzlerin (Brigitte Bierlein) und drei Bundeskanzler (Sebastian Kurz, Alexander Schallenberg und Karl Nehammer) kennen.

Aufregung über "Blutgeld"

Der Überfall Russlands auf die Ukraine ab Februar 2022 und der Umgang der Republik Österreich mit Moskau in Sachen Energiepolitik sorgten für Verstimmung zwischen der Bundesregierung und Selmayr. Denn der Diplomat kritisierte im vergangenen September die fortgesetzten milliardenschweren österreichischen Gaszahlungen an Russland als "Blutgeld" – eine Formulierung, für die er ins österreichische Außenministerium und nach Brüssel zitiert wurde. In der Zentrale der EU-Kommission war man damals alles andere als happy mit Selmayr, man distanzierte sich offiziell von den "bedauerlichen und unangemessenen Aussagen" ihres Vertreters in Österreich.

"Die Ukraine gehört zur europäischen Familie, und es ist ein wichtiges Signal, dass die EU-Staaten mit Unterstützung Österreichs beschlossen haben, nun mit der Ukraine die Beitrittsverhandlungen zu eröffnen", versucht Selmayr nun der Diskussion in Österreich eine neue Richtung zu geben. "Die Menschen in der Ukraine verteidigen heute unsere europäischen Werte und unsere auf dem Völkerrecht beruhende Friedens-, Freiheits- und Sicherheitsordnung. Wir sollten daher alles in unseren Möglichkeiten Stehende tun, um der Ukraine dabei zu helfen, ihren Verteidigungskrieg gegen Russland so schnell wie möglich zu gewinnen", schrieb Selmayr am Mittwoch in einer Aussendung.

Bogensberger führt Geschäfte

Für einen Diplomaten, zumeist sind diese sehr um Diskretion bemüht, bewegt sich Selmayr – von 2014 bis 2018 Kabinettchef des damaligen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker und dann bis zu seiner Übersiedlung nach Wien 2019 Generalsekretär der Europäischen Kommission – auffallend gern in der Öffentlichkeit. Es sei ihm stets ein "besonderes Anliegen, regelmäßig in allen Bundesländern unterwegs und in den Städten und Gemeinden präsent zu sein", betonte der Alois-Mock-Europapreisträger mehr als einmal.

Zu dieser Art politischer PR gehörte 2021 auch Selmayrs Aktion, gemeinsam mit Paul Schmidt, dem Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik, zwischen Neusiedler See und Bodensee 1900 Kilometer mit dem Fahrrad zurückzulegen und dabei nach eigenen Angaben mehr als 650 Gespräche zu führen.

Für die kommenden Monate übernimmt Wolfgang Bogensberger, Selmayrs langjähriger Stellvertreter, geschäftsführend die Leitung der Kommissionsvertretung in Wien. (gian, 31.1.2024)