Ein Junge trägt einen Sack Mehl.
Das Hilfswerk verteilt Mehl an Bedürftige – noch.
REUTERS/IBRAHEEM ABU MUSTAFA

Zwölf Mitarbeiter des Palästinenserhilfswerks UNRWA sollen nach israelischen Erkenntnissen in den Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober verwickelt gewesen sein. Während entsprechende Uno-Ermittlungen im Gang sind, um die Vorwürfe zu klären, fordert Israel vehementer denn je eine Auflösung des Hilfswerks. Tatsächlich droht ein Ende des UNRWA-Hilfseinsatzes im Gazastreifen: Nachdem etliche Geberländer der Organisation die Finanzierung gestrichen haben, reicht ihr Geld nach eigenen Angaben nur mehr wenige Wochen. Der Experte Daniel Forti von der US-Denkfabrik Crisis Group warnt im STANDARD-Gespräch davor, es so weit kommen zu lassen.

STANDARD: Hat die UNRWA ihren Status als neutrale Uno-Hilfsorganisation verloren?

Forti: Das sehe ich nicht so. Die UNWRA ist im Moment die wichtigste Lebensader für die Menschen in Gaza. Sie unterstützt dort mehr als zwei Millionen Menschen und bietet nicht nur den meisten Menschen rund um ihre Standorte einen Zufluchtsort, sondern auch Nahrungsmittel und Gesundheitsdienste. Die Vorwürfe sind natürlich sehr schwerwiegend und erfordern eine umfassende und unabhängige Untersuchung. Dennoch sollte die UNRWA als neutrale humanitäre Organisation gesehen werden, die nach den Prinzipien der Uno funktioniert. Sie ist einer der wenigen Akteure vor Ort, die mit allen Seiten des Konflikts zusammenarbeiten – zum einen mit der israelischen Regierung, zum anderen mit den De-facto-Behörden in Gaza. Sie ist bemüht, diese Kontakte auf das absolut Nötigste zu beschränken.

STANDARD: Wie kann man dann erklären, dass zwölf Uno-Mitarbeiter mutmaßlich an dem Massaker mitgewirkt haben? Hat die Führung der Organisation versagt?

Forti: Ich denke, es ist zu früh für solche Befunde. Die unabhängige Untersuchung der Uno hat erst diese Woche begonnen. Wir sollten das Ergebnis abwarten. Die Vorwürfe müssen gründlich und unabhängig untersucht werden.

STANDARD: Das "Wall Street Journal" berichtete unter Berufung auf israelische Geheimdienstinformationen, dass bis zu zehn Prozent der UNRWA-Belegschaft Verbindungen zur Hamas oder zum Islamischen Jihad hat. Halten Sie das für plausibel?

Forti: Israel hat der Uno diesbezüglich keine offiziellen Beweise vorgelegt. Die Berichte gingen nur an Medien und einige ausgewählte UNRWA-Geberländer. Es wäre wirklich wichtig, dass Israel den Vereinten Nationen und allen, die in der Lage sein wollen, diese Behauptungen gründlich zu untersuchen, entsprechende Beweise vorlegt. Auch wir von der Crisis Group können also nicht sagen, ob sie zutreffen. Wichtig ist jedoch festzuhalten, dass die UNRWA schon lange vor den aktuellen Vorwürfen immer wieder auf Kritik reagiert und diverse Kontrollen und Managementpraktiken eingeführt hat, die das eigentlich vermeiden sollen. Unter anderem übermittelt das Hilfswerk deshalb jährlich seine Mitarbeiterliste an Israel. Meiner Meinung nach kann man der UNRWA nicht vorwerfen, sich hier querzustellen.

STANDARD: Ex-UNRWA-Direktor Matthias Schmale spricht von einem politisch motivierten Zeitpunkt der Berichte, mit dem Israel von den Vorwürfen in Den Haag ablenken will. Sehen Sie das auch so?

Forti: Zum Timing kann ich nichts sagen. Die UNRWA spielt jedoch seit jeher eine wichtige symbolische Rolle im Nahostkonflikt und wird von israelischer Seite kritisch betrachtet. Israel hat sich immer wieder für eine Auflösung beziehungsweise eine Beschneidung ihrer Aufgaben ausgesprochen.

STANDARD: Israel spricht von einem "Hort der radikalen Hamas-Ideologie". Wie passt das zu Berichten, wonach sich Israel bisher immer wieder für die Finanzierung der UNRWA eingesetzt hat?

Forti: Obwohl ein Großteil der israelischen Führung das Hilfswerk ablehnt, sind die Ansichten darüber, ob es aufgelöst werden soll, gespalten. Denn im Falle einer Auflösung wäre Israel plötzlich für alle grundlegenden Dienste und die humanitäre Unterstützung, die die UNRWA und ihre Geberländer leisten, zuständig. Erst unlängst warnte ein israelischer Beamter davor, dass eine Auflösung die humanitäre Krise verschlimmern und Israel erschweren würde, seine Ziele in Gaza zu erreichen.

STANDARD: Halten Sie eine Auflösung für machbar?

Forti: Keinesfalls. Das wäre ein Desaster für die Menschen in Gaza und könnte die Region weiter destabilisieren. Das ist schlichtweg keine Option.

STANDARD: Kanada hat diese Woche seine Spendenmittel für andere im Gazastreifen tätige Uno-Organisationen erhöht. Wäre das keine Alternative?

Forti: Nein. Die UNRWA hat ein einzigartiges Mandat mit einer einzigartigen Infrastruktur für die Arbeit in Gaza. Sie hatte vor dem Krieg rund 13.000 palästinensische Angestellte vor Ort, wo andere UN-Organisationen höchstens ein paar Hundert haben. Sie ist auch die einzige UN-Organisation weltweit, die für die Bildung einer Bevölkerung zuständig ist. Es gibt also keinen gleichwertigen Ersatz. Dazu kommt, dass die UNRWA ein integraler Bestandteil der palästinensischen Gemeinschaft ist: Es gibt viele palästinensische Staatsangehörige, die für sie arbeiten. Sie ist also auch ein wichtiger Teil der Wirtschaft.

STANDARD: Wie kann man die UNRWA dann auf neue Beine stellen?

Forti: Was die Vorwürfe rund um den 7. Oktober und mögliche Reformen betrifft, muss man die diversen unabhängigen Untersuchungen abwarten. Was wir jedoch schon lange fordern, ist ein neues Finanzierungsmodell. Denn die UNRWA ist von freiwilligen Spenden abhängig. Dabei kommt nie so viel Geld zusammen, wie eigentlich gebraucht wird – das wirkt sich auf die grundlegende Versorgung im Gazastreifen aus. Jetzt zeigt sich außerdem auch, dass in dem Moment, in dem die Geber abspringen, die wichtigste Rettungsleine für die Menschen vor Ort unmittelbar bedroht ist. (Flora Mory, 5.2.2024)