Karl-Marx-Hof
Der 12.-Februar-Platz vor dem Wiener Karl-Marx-Hof erinnert an den Beginn der "Februarkämpfe 1934", die mehr als 300 Menschen den Tod brachten.
Hans Ringhofer / picturedesk.com

Bis heute ist es eine der legendären Szenen der Zweiten Republik: Anfang 1981 wollte sich die ÖVP in einer tagespolitischen Frage direkt an den Bundespräsidenten wenden und damit das Parlament umgehen. Bruno Kreisky war erbost. Im Pressefoyer nach einer Ministerratssitzung verglich er diesen Vorgang mit den Dreißigerjahren, was ein ORF-Journalist als übertrieben infrage stellte. Das erboste Kreisky noch mehr und führte schließlich zu der berühmt gewordenen Maßregelung: "Lernen S’ a bissel Geschichte, Herr Reporter!"

Kreisky hatte hautnah miterlebt, wohin es führt, wenn man an der Verfassung kratzt. Mit einem Schlag hatte es damals keine gewählte Volksvertretung mehr gegeben, keine Gewaltenteilung, keine Pressefreiheit. Die sogenannte Selbstausschaltung des Parlaments am 6. März 1933 mag man als operettenhafte Panne in der österreichischen Geschichte sehen, für die politische Realität bedeutete sie das Ende der Ersten Republik, denn sie war für den damaligen Kanzler Dollfuß der willkommene Anlass, sein autoritäres, antidemokratisches Programm durchzuziehen. Das zeigte er deutlich bereits wenige Tage später, am 15. März, als er berittene Polizei aufmarschieren ließ, um die Abgeordneten am Betreten des Parlaments zu hindern.

Mangelndes Geschichtsbewusstsein

Im März 2023 war das genau 90 Jahre her. Aber gab es dazu im österreichischen Parlament eine Gedenkveranstaltung? Nicht einmal die SPÖ wollte groß daran erinnern, als bräuchte man sich um die österreichische Demokratie keine Sorgen zu machen. Wie sehr hätte Kreisky erst dieses mangelnde Geschichtsbewusstsein und mehr noch die Ignoranz auch der eigenen Parteigeschichte gegenüber erbost. Schließlich ist die Kenntnis geschichtlicher Ereignisse ein unverzichtbarer Maßstab politischen Handelns.

Und nun – weil es damals Schlag auf Schlag ging – jährt sich das nächste, erst recht verhängnisvolle Datum: die "Februarkämpfe 1934". Ob man diese nun als Bürgerkrieg, Aufstand oder Revolte bezeichnet, der bewaffnete Widerstand war von Anfang an zum Scheitern verurteilt und erfolgte zu einem Zeitpunkt, als die Demokratie längst außer Kraft gesetzt war. Im Nachhinein stellt sich die Frage, warum die Sozialdemokraten nicht gleich 1933 zu einem Generalstreik und zu damals noch friedlichem Widerstand aufgerufen haben. Und ob sich die Katastrophe – sie brachte mehr als 300 Menschen den Tod – dann hätte verhindern lassen. Der "Bürgerkrieg" hatte immerhin zur Folge, dass die beiden einander so feindlich gesinnten Parteien 1945 zum Konsens gezwungen waren. Man war sich einig, so etwas dürfe nie wieder passieren. Der Konflikt selbst wurde aber nie aufgearbeitet, er blieb eine unsichtbare Last der Zweiten Republik, wurde entweder ignoriert oder erschöpfte sich in ritualhaft inszeniertem Gedenken.

Emotionale Konfrontation

Wilhelmine Goldmann, deren Vater Franz Lettner 1934 Schutzbundführer in Traisen und in den 1960er-Jahren Bürgermeister des südlich von St. Pölten gelegenen Industrieortes war, hat den Bedeutungsverlust in der eigenen Partei schon vor Jahrzehnten wahrgenommen. Am 12. Februar 1984 begleitete sie ihren Vater zur 50-Jahr-Gedenkfeier ins Traisener Volksheim. Für die meisten Genossen bedeutete die Veranstaltung eine "parteipolitische Pflichtübung", für Franz Lettner jedoch, einen der wenigen noch lebenden Augenzeugen, war es eine emotionale Konfrontation mit der schmerzlichen Vergangenheit. Als er auf dem Podium das Wort ergriff, war er aufgeregt, am Ende versagte ihm die Stimme. Er erzählte von der Bereitschaft seiner Kameraden, die Republik notfalls auch mit Waffengewalt zu verteidigen. Zwar war es in Traisen zu keinen Kampfhandlungen gekommen – die Schutzbündler hatten auf Lettners Geheiß noch rechtzeitig ihre Waffen weggeworfen –, dennoch wurden sie alle noch am 12. Februar verhaftet und zum Teil schwer misshandelt. Im Landesgericht St. Pölten teilte sich Lettner die Zelle mit einem Kameraden aus dem benachbarten Rohrbach an der Gölsen: Viktor Rauchenberger, ein Maurer, 26 Jahre alt. Er wurde am 16. Februar hingerichtet. Als Franz Lettner in seiner Gedenkrede schilderte, wie er sich die ganze Nacht davor noch mit Rauchenberger unterhalten und dieser ihn beschworen habe: "Vergesst uns nicht, damit wir nicht umsonst gestorben sind", übermannte ihn die Rührung.

"Im Saal herrschte betretene Stille", erinnert sich Wilhelmine Goldmann, die sich in diesem Augenblick für ihren Vater schämte, denn "Sentimentalität war hier fehl am Platz". Mehr noch machten sie die Gesichter der anderen betroffen, die sich zu fragen schienen, was sie hier eigentlich sollten, was der Februar 1934 sie noch anginge. Die Generationen nach dem Krieg, die nur sozialen Frieden und Wohlstand kannten, hatten nicht miterlebt, wie die Partei verboten und die Demokratie zerstört wurde. Die Zweite Republik erschien so selbstverständlich, dass sich niemand vorstellen konnte, dafür sein Leben aufs Spiel zu setzen.

Harte Strafen

1934 waren Sozialdemokraten bereit, für die Demokratie zu kämpfen, und wurden hart dafür bestraft. Neun Schutzbundkämpfer endeten am Galgen. Auch Franz Lettner sollte hingerichtet werden – so wurde es jedenfalls seiner Frau übermittelt. Die erlitt einen Nervenzusammenbruch und wurde in die "Irrenanstalt" Mauer-Öhling eingewiesen. Sie galt als suizidgefährdet, war anfangs verwirrt und renitent. Die Ärzte behandelten sie mit Typhus(!)-Injektionen.

Wilhelmine Goldmann, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, hatte von all dem erst bei den Recherchen zu ihrem Buch erfahren. In der Familie war nur von einem "Schock" die Rede gewesen, auch ihr Vater erzählte wenig, er machte von seiner Person nie viel Aufhebens. Fast zwei Jahre lang war er im Ständestaat inhaftiert. Das hatte auch Spuren in der Beziehung zu seiner Frau hinterlassen. Auch danach war Lettner im Untergrund weiter für die Partei tätig, aber als die Nazis an die Macht kamen, stellte ihn seine Frau vor die Wahl – sie wollte nicht die Witwe eines Märtyrers sein. Dass er sich in der Folge mit den Nazis arrangieren musste, um der drohenden KZ-Haft zu entgehen, hat ihn bis zu seinem Lebensende geschmerzt. Auch mit der Entwicklung der Gesellschaft und seiner eigenen Partei nach 1945 wurde er immer unzufriedener, prangerte Machtstreben und Ämterkumulierung an.

Buchcover
Wilhelmine Goldmann, "'Rote Banditen'. Geschichte einer sozialdemokratischen Familie". Mit einem Nachwort von Ferdinand Lacina. € 26,– / 240 S. Promedia, Wien 2023
Promedia Verlag

Vererbter Widerstandsgeist

Auf altmodische Weise blieb sich der ehemalige Schutzbundmann treu, als andere "pragmatisch" wurden. "Vom Bauernkind zum Proletarier" ist ein Kapitel im Buch überschrieben, das anhand seiner Herkunftsgeschichte erklärt, warum aus ihm nur ein überzeugter Sozialdemokrat werden konnte. Nicht anders die Mutter, das "evangelische Ziehkind", deren Vorfahren einst als Holzarbeiter aus dem Salzkammergut gekommen waren und denen der Widerstandsgeist gleichsam in den Genen lag. Der Kampf um die Demokratie war Goldmanns Eltern ebenso selbstverständlich wie das Streben nach Bildung, in der sie den Schlüssel für sozialen Fortschritt sahen.

Von der Geschichte eingeholt

Dass Wilhelmine Goldmann dann ausgerechnet im akademischen Bildungsmilieu der Zweiten Republik auf Relikte des austrofaschistischen Ungeistes stieß, ist böse Ironie der Geschichte. In den späten 1960er-Jahren studierte sie an der Hochschule für Welthandel, als dort Ideologen des Ständestaates und der bekennende Nazi Taras Borodajkewycz Lehrkanzeln innehatten. Auch zuvor im Eliteinternat der "Bundeserziehungsanstalt" erlebte Goldmann einen katholisch-reaktionären Schulalltag. Einmal musste sie sogar an einer Dollfuß-Feier teilnehmen – "ein feierliches Gedenken an den Mörder der Freunde meines Vaters".

Heute erscheint es ihr geradezu absurd, wie sehr man von der Geschichte eingeholt werden kann. Aber ist Geschichte je etwas Abgeschlossenes? Die Angelegenheit um das nun aufgelöste Dollfuß-Museum in Texingtal bezeugt, dass sich manche Gräben sehr lange nicht schließen lassen und wie groß immer noch das Misstrauen und mitunter der gegenseitige Hass ist. Dabei müsste man sich nur ohne Wenn und Aber der Geschichte stellen, dann könnte man darin sogar das Verbindende entdecken. Denn die Erste Republik, das ist Wilhelmine Goldmann wichtig zu betonen, war trotz allem eine Erfolgsgeschichte, wurde in den ersten Jahren doch der Grundstein zu unserem heutigen Rechts- und Sozialstaat gelegt und eine Verfassung beschlossen, die man zu Recht als "schön" bezeichnen kann. Sie garantiert uns heute ein Leben in Freiheit und Sicherheit und sollte gegen jeden Versuch, daran zu rühren, verteidigt werden. (Gerhard Zeillinger, 3.2.2024)